Sonntag, 5. Oktober 2014

Der Riese, der ein Mammut war

München / Wiesbaden (internet-zeitung) – Wenn man ehedem in Europa imposante Knochen oder Zähne eines Mammuts aus dem Eiszeitalter fand, dachte man an alles andere als an einen prähistorischen Elefanten. Man konnte sich nicht vorstellen, dass einst im eigenen Land bis zu 3,75 Meter hohe zottelige Rüsseltiere mit langen Stoßzähnen umherwanderten und Gras weideten. Statt dessen schrieb man die ungewöhnlich großen Mammutreste oft Riesen, Heiligen, Einhörnern, Drachen oder Greifen zu.

Auf dieses Phänomen weist der Wiesbadener
WissenschaftsautorErnst Probst in seinem Taschenbuch „Das Mammut“ (GRIN-Verlag, München) hin. Als Überbleibsel von Riesen fehlgedeutet wurden beispielsweise Zähne und Knochen vom Mammut, die im Mittelalter in Wien ans Tageslicht kamen. Laut einer Legende stammten diese Funde von Riesen, die beim Bau des Stephansdoms mithalfen und dort sogar zur Taufe gingen.

Als berühmter Fundort vermeintlicher Riesen- und Drachenknochen galt im 16. Jahrhundert die Nibelungenstadt Worms am Rhein. In Wirklichkeit hatte man vor allem in Kiesschichten des Rheins fossile Knochen von Mammuten geborgen. Damals kursierten in Worms viele Geschichten über den Drachentöter Siegfried, der in der Phantasie vieler Menschen ein Riese geworden war. Um 1540 hingen am Rathaus riesige Knochen in schweren Ketten. Diese galten als Beweis dafür, dass Worms einst von Giganten bewohnt gewesen sei.

Im Straßburger Münster bewahrte man im Mittelalter den Stoßzahn eines Mammuts auf, den man als Klaue eines Greifen verkannte. Ein Greif ist ein geflügeltes Fabeltier mit Adlerkopf und Löwenkörper. Der Arzt und Naturforscher Conrad Gesner sowie der Arzt und Stadtpfarrer Conrad Forrer betrachteten 1563 in ihrem „Thierbuch“ die im Straßburger Münster an Ketten aufgehängte vermeintliche Greifenklaue als Horn eines alten Auerochsen oder „Urstiers“.

Dem „Luzerner Riesen“ schrieb man Mammutknochen zu, die 1577 im schweizerischen Kanton Luzern entdeckt wurden. Diese Knochen kamen zwischen den Wurzeln einer von einem Sturm gefällten Eiche beim Kloster Reiden im Wiggertal nahe des Vierwaldstätter Sees zum Vorschein. Einige der ersten Betrachter vermuteten, bei diesen merkwürdigen Gebeinen könne es sich um Überreste gefallener Engel handeln. Der Naturforscher Felix Platter aus Basel deutete jene Knochen als Reste eines ungefähr 5,60 Meter großen Riesen.
Als Stirnhorn des legendären Einhorns betrachtete man den im Februar 1605 im Tal des Flusses Bühler bei Neubronn unweit von Schwäbisch-Hall entdeckten Stoßzahn eines Mammuts. Das Fabeltier Einhorn hatte angeblich die Gestalt eines Pferdes und trug ein mächtiges Horn auf der Stirn. Den 1605 gefundenen Mammutstoßzahn hat man im Chor der Kirche „Sankt Michael“ zur Schau gestellt. Er wird von einer kunstvoll geschmiedeten Aufhängung getragen.


An den „Oberschenkel eines Riesen von wundersamer Größe“, der einst am Rheinufer von Oppenheim unweit von Mainz in Rheinhessen ans Tageslicht kam, erinnert ein großes Gemälde des Malers Bartholomäus Sarburgh im Historischen Museum Bern. Der 1,27 Meter lange Oberschenkelknochen befand sich um 1613 im Oppenheimer Wirtshaus „Zum Riesen“ und wurde von einheimischen sowie auswärtigen Gästen bewundert. Ein vermeintlicher Riesenknochen von etwa gleicher Größe befand sich auch im Besitz eines Oppenheimer Adeligen.


Auf fehlgedeutete Mammutknochen geht die angebliche Entdeckung des legendären „Einhorns von Quedlinburg“ im 17. Jahrhundert zurück. Der sensationelle Skelettfund kam 1663 in einem Gipsbruch auf dem Zeunickenberg bei Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) zum Vorschein. Eine 1714 veröffentlichte Rekonstruktion zeigte ein seltsames Tier. Es stand auf zwei Beinen und stützte sich mit einem langen Schwanz ab. Heute ist klar, daß die vermeintlichen Vorderbeine des Einhorns aus vier Oberschenkelknochen vom Mammut konstruiert worden sind.


Um Mammutknochen und um Mammutzähne handelte es sich auch bei den angeblichen Resten des „Kremser Riesen“ aus Niederösterreich. Diese Fossilien wurden 1645 auf dem „Hundssteig“ in Krems an der Donau von schwedischen Soldaten zutage gefördert. Die Soldaten hatten in ihrer Befestigungsanlage auf dem Berg einen Graben ausgehoben, mit dem sie Regenwasser ableiten wollten. Dabei stießen sie auf einen vermeintlich ungeheuer großen Riesenkörper. Außer diesem „großen Riesen“ barg man im Graben noch zwei „kleinere Riesen“, deren Reste man aber im Erdreich beließ.


Als Knochen eines „Woloten“ (Riesenmenschen) deutete man fossile Knochen, die während der Regierungszeit des russischen Zaren Fjodor III. Aleksejewitsch von 1676 bis 1682 entdeckt worden waren. Als der junge Herrscher davon erfuhr, ordnete er an, der Statthalter in Kursk solle einen Mann zum Fundort schicken, um die Knochen des „Woloten“ auszugraben. Jeder dieser Knochen musste sorgfältig gemessen und aufgezeichnet werden.
Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat man in Europa mitunter Mammutzähne und Mammutknochen als Reste von Heiligen wie Christophorus oder Vinzenz von Valencia fehlgedeutet. Zum Beispiel wurde in Valencia (Spanien) ein Mammutzahn als Zahn des heiligen Christophorus („Christusträger“) verehrt. Christophorus wird oft als Hüne mit Stab dargestellt, der das Jesuskind auf den Schultern über einen Fluss trägt.

Schädelfunde ausgestorbener Zwergelefanten auf griechischen Mittelmeerinseln ließen die Sage von einäugigen Riesen (Kyklopen oder Zyklopen, zu deutsch: „Rundauge“) entstehen. Jene fossilen Schädel hatten nämlich dort, wo der Rüssel ansetzt, ein großes Loch, das man irrtümlich für die Augenöffnung auf der Stirn eines Riesen hielt. Mit einem riesigen Kyklopen namens Polyphem hatte Odysseus, der listige und tapfere König von Ithaka, während seiner abenteuerlichen Heimreise nach dem von den Griechen gegen die Trojaner gewonnenen „Trojanischen Krieg“ angeblich seine liebe Mühe.


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