Dienstag, 1. Dezember 2009

Finanzmathematik: Ist die Mathematik schuld an der Finanzkrise?

Offensichtlich haben sich die Banken bei vielen der Risiken, die sie berufsmäßig einzugehen haben, krass verschätzt, und zwar unter Anwendung mathematischer Modelle. Ein Mathematiker erklärt, wie diese Fehler zu Stande kamen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Dezember 2009

Nach dem mit großer Mühe abgewendeten Zusammenbruch des globalen Bankensystems kommt die Suche nach den Schuldigen. Das sind nicht in erster Linie die Kriminellen. Die gab es zwar auch; aber viel drängender ist die Frage, wieso das Gesamtsystem so wacklig war, dass diese Einzelpersonen es fast zum Einsturz gebracht hätten. Was hat sich verändert seit den guten alten Zeiten, als die Landesbanken noch verallgemeinerte öffentlich-rechtliche Sparkassen mit regional begrenztem Geschäft waren und nicht eine Unmenge undurchschaubarer Finanzprodukte wie "Optionen", "Futures", "Derivate" und "Collateral Debt Obligations" in den Büchern stehen hatten?

In der Tat spielt bei diesen neuen Produkten die Mathematik eine entscheidende Rolle. Die Wahrscheinlichkeitstheoretiker Fischer Black und Myron Scholes hatten aus gewissen Annahmen über das Verhalten der Marktteilnehmer eine Formel hergeleitet, die einen realistischen Preis für eine Option – ein elementares unter den neuen Produkten – zu berechnen erlaubt. Die Black-Scholes-Formel, für die 1973 der Wirtschaftsnobelpreis vergeben wurde, hat seither die Finanzwelt umgekrempelt. Inzwischen werden Vereinbarungen abgeschlossen, die ohne die Formel undenkbar gewesen wären, weil die Beteiligten sich niemals auf einen Preis hätten einigen können. Es handelt sich um Mischformen aus Kreditvertrag, Kreditausfallversicherung und einer reinen Wette; und in allen steckt eine erhebliche Portion Mathematik.

Woran liegt es dann, dass diese Vereinbarungen zu Millionen nicht mehr eingehalten werden konnten und die zugehörigen Verluste die Bilanzen der Banken verdüstern? Ernst Eberlein, Mathematikprofessor aus Freiburg und intimer Kenner der Bankenszene, liest in seinem neuen Artikel in "Spektrum der Wissenschaft" (Dezember 2009) den Bankern die Leviten. Sie sind es gewesen, die nicht über den ausreichenden Sachverstand verfügten. Sie haben den Fehler begangen, sich auf die Einschätzungen der Ratingagenturen zu verlassen, obgleich ihnen klar sein musste, dass die Bewerter ein Eigeninteresse an zu optimistischer Bewertung hatten. Vor allem haben sie nicht verstanden, dass die vielgepriesenen Formeln nicht etwa ewige mathematische Wahrheiten verkünden, sondern auf mathematischen Modellen beruhen. In diese wiederum gehen die oben genannten Grundannahmen ein. Und die treffen, vor allem in Krisenzeiten, nicht immer zu.

Sogar das Black-Scholes-Modell ist schon wieder veraltet. Eberlein demonstriert an realen Kursverläufen, dass sehr große Schwankungen eines Börsenkurses zwar selten sind, aber längst nicht so selten, wie sie nach der Theorie sein sollten. Anstelle der klassischen gaußschen Glockenkurve geben die von ihm in die Diskussion eingeführten "verallgemeinerten hyperbolischen Verteilungen" das Geschehen viel genauer wieder.

Andere Modellierungsfehler sind darauf zurückzuführen, dass die Anwender gewisse Parameter des Modells, die nicht unmittelbar zu beobachten sind, durch Zurückrechnen aus den – beobachtbaren – Marktpreisen schätzen. Das betrifft eine zentrale Größe des Black-Scholes-Modells, die so genannte Volatilität, ebenso wie die Korrelation; das ist eine Maßzahl dafür, wie stark das Ausfallrisiko eines Kredits mit dem anderer von derselben Bank vergebener Kredite verkoppelt ist.

Sollte man zu den guten alten Zeiten vor Black-Scholes und der Globalisierung zurückkehren? Das ist weder möglich noch wünschenswert. Die Alternative zu den problematischen mathematischen Modellen ist nicht "keine Modelle", sondern "bessere Modelle". Die Zeiten, als die Beherrschung der Grundrechenarten für den Beruf des Bankers qualifizierte, sind endgültig vorbei. Und natürlich ist "die Mathematik" ebenso wenig schuld an der Finanzkrise wie Einstein an der Atombombe.