Zwei Althistoriker erklären, wie die Erinnerung an die Antike der modernen Gesellschaft Identität verleiht
Aus: epoc, Ausgabe 2/2011
Die Erinnerung an Vergangenes unterliegt einem ständigen Wandel. Forscher verschiedener Disziplinen erkunden diesen Prozess, indem sie das Gedenken an Erinnerungsorte – bestimmte Orte, Personen und Monumente – zu verschiedenen Zeiten untersuchen.
"Erinnerung spielt bei der Konstitution von Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten eine viel wichtigere Rolle, als wir das bislang wahrgenommen hatten", ist der Althistoriker Karl-Joachim Hölkeskamp von der Universität Köln überzeugt. Gemeinsam mit seiner Frau, der Althistorikerin Elke Stein-Hölkeskamp, hat er sich mit den Erinnerungsorten der Antike beschäftigt. In der aktuellen Ausgabe von epoc (2/2011) erklären sie, welche Orte sie dabei ausgewählt haben, was sich an ihnen ablesen lässt und warum Erinnerung ein offener Prozess ist.
Athen, Olympia und Marathon sind nicht nur beliebte touristische Ziele in Griechenland. Schon seit Jahrhunderten symbolisieren diese Orte die Antike – eine Epoche, die unsere Gesellschaft bis heute prägt und ihr Identität verleiht. Doch die Wahrnehmung und die Erinnerung daran änderte sich im Lauf der Zeit: Noch 1789 bewerteten die intellektuellen Führungsfiguren der Revolution in Frankreich zum Beispiel die athenische Demokratie als Pöbelherrschaft, während sie für uns eine vorbildhafte Herrschaftsform darstellt.
Historiker, die sich der Erinnerungskultur verschrieben haben, untersuchen solche Veränderungsprozesse. Ihr Ziel: dem historischen Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Denn die kollektiven Erfahrungen einer Gemeinschaft bilden die Basis, auf der Kunst und Politik entstehen. Dabei streben die Forscher keine Gesamtdarstellungen von Epochen oder Völkern an. Sie untersuchen exemplarisch Personen, epochale Ereignisse oder Phänomene, an denen heutige Erfahrungen anknüpfen.
Bei ihrer Arbeit berufen sie sich etwa auf die Untersuchung des französischen Soziologen Maurice Halbwachs. Er wies in den 1920er Jahren nach, dass die sozialen Aspekte von Kultur nicht automatisch an nachfolgende Generationen weitergegeben, sondern – als kollektives Gedächtnis – von diesen erlernt werden müssen. Erst in den 1980er Jahren griff die kulturhistorische Forschung mit Pierre Nora das Gedächtnisthema wieder auf. Er ging davon aus, dass es fast kein kollektives Gedächtnis mehr gebe, weil Institutionen wie die Kirchen an Einfluss verloren hätten.
Die Ägyptologen Aleida und Jan Assmann entwickelten das Konzept des "kulturellen Gedächtnisses", das in Deutschland auf großes Interesse stieß. Den Wissenschaftlern zufolge stützt sich das identitätsstiftende Konstrukt vor allem auf historische Erfahrungen, die durch das Lesen alter Texte und das Betrachten von Denkmälern immer wieder aufgefrischt würden. Erst das Bedürfnis einer Gesellschaft nach Identität lasse Vergangenheit zur Erinnerung werden.
Mit ihrer Theorie ermöglichten die beiden Forscher die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Geschichts-, Altertums-, Religions-, Literaturwissenschaftlern, Kunsthistorikern und Soziologen, wie Arbeiten über die Erinnerungsorte der Deutschen und der DDR zeigen. Erst seit Kurzem steht mit den Erinnerungsorte des Christentums und der Antike die ältere Geschichte im Mittelpunkt der Forschung.