Mittwoch, 24. August 2011

Wissenschaftsgeschichte - Die Kunst, Leibniz herauszugeben

Mehr als die Hälfte des umfangreichen Nachlasses von Gottfried Wilhelm Leibniz, dem letzten Universalgelehrten Europas, wartet noch darauf, in Buchform zu erscheinen

Aus: Spektrum der Wissenschaft, September 2011

Es gibt kaum eine Wissenschaft, die ihm nicht entscheidende Anstöße, Fortschritte und Impulse verdankt. Dabei hat Gottfried Wilhelm Leibniz, der vielleicht letzte Universalgelehrte Europas, zu Lebzeiten nur sehr wenig publiziert. Und selbst knapp drei Jahrhunderte nach seinem Tod ist der Nachlass des genialen Denkers noch immer nicht vollständig erschienen.
Es handelt sich dabei um hauptsächlich nachgelassene Werke – Schriften und Tausende von Briefen. Wie der Wissenschaftshistoriker und Mitherausgeber der Leibniz-Edition Eberhard Knobloch in der Septemberausgabe von Spektrum der Wissenschaft berichtet, sind bisher 49 Bände erschienen – von mindestens 100 geplanten Büchern.

Gottfried Wilhelm Leibniz gilt als letzter Universalgelehrter der Geschichte. Von ihm stammen zahlreiche fundamentale Impulse für die Wissenschaft, so die Infinitesimal- und Integralrechnung, die er unabhängig von Newton entwickelte. Er legte Grundlagen der Kombinatorik und Determinantenrechnung, Logik, Philosophie, Theologie, Sprach- und Geschichtsforschung – auch wenn er nur das Allerwenigste selbst publizierte.

Leibniz war auch ein eifriger Erfinder. Er ersann das Dualsystem mit 0 und 1, mit dem heute Computer arbeiten, konzipierte ein Windmessgerät, Pläne für ein Unterseeboot sowie die Staffelwalze für eine mechanische Rechenmaschine. Die Schriften des Gelehrten, der als Beamter am Hof des Herzogs und späteren Kurfürsten von Hannover tätig war, werden seit über 100 Jahren in acht thematisch geordneten Reihen ediert: allgemeiner, politischer und historischer Briefwechsel , Philosophischer Briefwechsel, Mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Briefwechsel, Politische Schriften, Historische und sprachwissenschaftliche Schriften, Philosophische Schriften, Mathematische, naturwissenschaftliche und technische Schriften. Allein die mathematischen Schriften werden dabei auf 30 Bände taxiert.

Tatsächlich hat Leibniz zu Lebzeiten nur 1710 ein einziges großes Werk herausgegeben, die "Studien zur Theodizée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels" kurz "Theodizee". Die französischen Originalfassungen der anderen umfangreichen philosophischen Schriften, wie etwa der "Metaphysischen Abhandlung" (1686), der "Neuen Studien über den menschlichen Verstand" (1704) oder der "Monadologie" (1714), erschienen erst in den Jahren 1846, 1765 respektive 1840. Seine mit mehr als 100 Druckseiten umfangreichste mathematische Abhandlung zur exakten Grundlegung der Infinitesimalgeometrie, die "Arithmetische Quadratur des Kreises, der Ellipse und der Hyperbel, deren Folge eine Trigonometrie ohne Tafeln ist" (1675 / 76), wurde gar erst 1993 zum ersten Mal veröffentlicht.

Eine Ausgabe seiner "Sämtlichen Schriften und Briefe" muss noch seinen gewaltigen Nachlass erschließen, der in jeder Hinsicht einen Ausnahmefall darstellt. Dass dieser überhaupt weit gehend erhalten geblieben ist, verdankt sich einem politischen Umstand. Da Leibniz für den Kurfürsten in Hannover (ab 1714 König von England), den Herzog von Wolfenbüttel, und immer wieder auch für den preußischen König in Berlin, den Kaiser in Wien sowie den Zaren in Sankt Petersburg tätig war, ließ der hannoversche Hof seinen Nachlass unmittelbar nach seinem Tod versiegeln. Er wollte damit vor allem sicherstellen, dass keine möglichen Interna, die in dem gewaltigen Konvolut schlummern mochten, an die Öffentlichkeit gelangten.

Es handelt sich dabei um einen der umfangreichsten Gelehrtennachlässe überhaupt: über 15 000 Briefe an mehr als 1100 Adressaten, über 50 000 Abhandlungen, Aufzeichnungen, Exzerpt auf rund 200 000 Blättern und rund 100 Bände mit Anmerkungen. Leibniz hat seine Schriften und Briefe überwiegend auf Lateinisch (rund 40 Prozent), Französisch (30 Prozent) und Deutsch (15 Prozent) abgefasst, zum kleineren Teil auch auf Englisch, Niederländisch, Italienisch oder Russisch. Doch damit nicht genug: Der Inhalt seiner Aufzeichnungen betrifft so gut wie alle Wissensgebiete, sämtliche Geistes- und Naturwissenschaften des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts sowie Theologie und Technik. Es ist der Nachlass eines Denkers, der die Universalität des Wissens praktizierte und proklamierte, wie es heute keinem Menschen mehr möglich wäre.

Das macht deutlich, welchen geistigen Schatz es heute noch zu heben gilt, aber auch, welch großer Aufwand noch auf die Herausgeber wartet. Erst 1901 wurde mit der Katalogisierung des Nachlasses von Leibniz begonnen. Nach und nach zeigte sich damit die Größe der Aufgabe, auch wenn diese weiterhin noch jahrzehntelang dramatisch unterschätzt wurde. 2007 wurde der Leibniz-Briefwechsel, der in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek in Hannover liegt, zum Unesco-Weltdokumentenerbe erklärt und damit als zehnter deutscher Eintrag ins Register Memory of the World aufgenommen.

Das Internet erlaubt es heute, in der Edition neue Wege zu beschreiten. So gibt heute die Webseite http://www.leibniz-edition.de der deutschen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft laufend aktuelle Auskunft über neu erschienene Bände, die Arbeitsstellen der beiden Akademien sowie weitere Hilfsmittel zur Akademie-Ausgabe. Die Texte neu bearbeiteter Bände werden jeweils noch vor dem Erscheinen im Druck als PDF-Dateien ins Netz gestellt und damit weltweit leicht zugänglich gemacht.