Mittwoch, 23. November 2011

Unser verborgenes zweites Auge

Noch vor wenigen Jahren ahnte niemand, dass im menschlichen Auge ein zweites, uraltes Lichtorgan steckt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Dezember 2011

Eigentlich kennen Physiologen die Lichtsinneszellen unserer Netzhaut seit 150 Jahren – dachten die Experten zumindest bisher. Sie glaubten, es gäbe genau zwei Sorten von Fotosensoren: die Stäbchen und die Zapfen. Als einzelne Forscher hieran Ende des letzten Jahrhunderts Zweifel anmeldeten, ernteten sie von ihren Fachkollegen nur Spott.

Doch heute ist erwiesen: Die Netzhaut – fachlich Retina – weist noch eine völlig andere Sorte lichtsensitiver Zellen auf. Sie sitzen in einer anderen Schicht und gehören zu den retinalen Ganglienzellen. Deren lange Ausläufer bilden zusammen den Sehnerv. Allerdings schicken die lichtempfindlichen Ganglienzellen ihre Fortsätze nicht, wie ihre Schwestern, in die Sehrinde des Gehirns, sondern in andere Hirnzentren. Vor allem informieren sie ein Hirngebiet, das für unsere innere Uhr zuständig ist.

Diese Entdeckungen beschreibt nun der amerikanische Neurowissenschaftler Ignacio Provencio von der University of Virginia in Charlottesville in der Dezemberausgabe von "Spektrum der Wissenschaft". Provencio selbst hat das Fotopigment bestimmt, das in diesen Ganglienzellen auf Licht reagiert. Es handelt sich um einen stammesgeschichtlich anscheinend sehr alten Farbstoff, den viele Tiere rein zur Helligkeitswahrnehmung etwa über die Haut benutzen, zum Beispiel wenn sie ihre Körperfärbung der Umgebung angleichen.

Manche sonst völlig blinden Menschen erkennen mit Hilfe dieser besonderen Ganglienzellen zumindest hell und dunkel. Anscheinend kann das die sonst für diesen Personenkreis typischen Schafstörungen mindern. Jene Netzhautzellen reagieren mit ihrem Farbstoff hauptsächlich auf bläuliches Licht. Die Forscher vermuten, dass blaues Licht auch bei Jetlag oder Winterdepressionen Hilfe bringen könnte, wie ebenfalls bei Gesundheitsbeschwerden wegen Schichtarbeit.

Bisher sieht es so aus, als könnte ein ansonsten gesundes Auge normalerweise auf die lichtempfindlichen Ganglienzellen verzichten. Zumindest funktioniert der Tag-Nacht-Rhythmus auch dann noch, wenn sie fehlen. Aber vielleicht helfen uns die so spät erst entdeckten Nervenzellen in unserer Netzhaut doch über Grenzsituationen leichter hinweg, die uns bei Lichtverschiebungen belasten.