Samstag, 22. Dezember 2012

Neuroprothetik - Mit der Kraft der Gedanken

Heidelberg. Die Vision, dass Gelähmte eines Tages ihre künstlichen Gliedmaßen direkt mit dem Gehirn steuern, ist keine Sciencefiction mehr. Schon in wenigen Jahren könnte eine Ganzkörperprothese die verlorene Beweglichkeit komplett wiederherstellen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Januar 2013

Milliarden Fernsehzuschauer werden vom Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien vielleicht nicht nur die Dribbelkünste der Starkicker im Gedächtnis behalten. Denn aus diesem Anlass möchte ein internationales Forscherteam den Fußballfans – und der Welt – vorführen, wie weit die Steuerung von Robotergliedern durch elektrische Hirnsignale bereits gediehen ist.

Sofern Miguel A. L. Nicolelis von der Duke University in Durham (US-Bundesstaat North Carolina) bis dahin noch ein paar gewaltige technische Probleme überwindet, wird der feierliche Anstoß von einem gelähmten Teenager ausgeführt werden, der in einem Roboteranzug aufs Spielfeld spaziert. Der Anzug wird von motorischen Signalen des Gehirns gesteuert, die von dort drahtlos zu einem Minicomputer auf dem Rücken des Jungen wandern. Der Rechner übersetzt die elektrischen Hirnsignale in digitale Bewegungsbefehle. Bei der Annäherung an den Ball stellt sich der Spieler vor, wie sein Fuß das Leder berührt, und Sekundenbruchteile später weisen Hirnsignale den Roboterfuß an, einen kraftvollen Ankick zu vollziehen.

Die Demonstration der radikal neuen Technologie, die Nicolelis in der Januarausgabe von Spektrum der Wissenschaft beschreibt, soll beweisen, dass die Gedankensteuerung von Maschinen nicht nur im Labor funktioniert, sondern tatsächlich gelähmten Patienten zu helfen vermag. Damit könnten in einigen Jahren nicht nur Unfallopfer und Kriegsversehrte ihre Beweglichkeit wiedergewinnen, sondern auch Patienten, die an der Nervenlähmung ALS, der Parkinson-Krankheit sowie an anderen Bewegungs- oder Sprachdefekten leiden.

Zum Hintergrund: Das Projekt fußt auf fast zwanzigjähriger Pionierarbeit über Gehirn-Maschine-Schnittstellen. Schon in den 1960er Jahren versuchten Wissenschaftler erstmals, mit aus Tiergehirnen abgeleiteten Nervensignalen über einen Computer eine mechanische Vorrichtung in Bewegung zu setzen. Von 1990 an entwickelte das Team um Nicolelis eine neue Methode: Die Forscher pflanzten hunderte Mikrodrähte – hauchdünne, flexible Sensoren – in die Gehirne von Ratten und Affen. Die Messfühler können winzige elektrische Signale, so genannte Aktionspotenziale, aufspüren, die von hunderten über den Frontal- und Scheitellappen der Großhirnrinde verteilten Nervenzellen ausgehen. Diese Zellen gehören zu einem weiträumigen Netzwerk, das willentliche Bewegungen erzeugt.

Ein entscheidender Durchbruch gelang 2011: Zwei Affen lernten, über diese Schnittstelle einen computersimulierten Arm zu steuern, der Objekte in einer virtuellen Welt berührte und dabei ein künstliches taktiles Feedbacksignal direkt ins Gehirn lieferte. Dadurch lernten die Tiere, wie es sich anfühlt, einen Gegenstand mit „eigenen“ virtuellen Fingern anzufassen.

Auch der zukünftige Weltmeisterschaftseröffnungskicker wird die allerersten Schritte virtuell tun, und zwar in einer Kammer, deren Wände, Fußboden und Decke als Projektionsflächen dienen. Ausgerüstet mit einer 3-D-Brille und einer speziellen Kopfbedeckung, die mittels Elektro- und Magnetoenzephalografen nichtinvasiv Hirnwellen registriert, taucht der Gelähmte in Gestalt eines Avatars – eines virtuellen Doppelgängers – in eine virtuelle räumliche Umgebung ein. Darin wird er lernen, immer kompliziertere Bewegungen nur mit Gedanken zu steuern. Am Ende wird er als Avatar feinmotorische Fertigkeiten besitzen und beispielsweise über unebenes Gelände wandern oder ein virtuelles Marmeladeglas öffnen können.

Doch ein Roboteranzug lässt sich noch viel schwieriger beherrschen als ein Software-Avatar. Um die künstlichen Gliedmaßen zu steuern, müssen Elektroden direkt ins Gehirn eingepflanzt werden. Außerdem gilt es, zahlreiche über die Hirnrinde verteilte Neuronen gleichzeitig abzulesen. Die meisten Sensoren sollen in den Motorkortex implantiert werden. Vor allem in dieser Region des Frontallappens entsteht das Bewegungsprogramm, das normalerweise über das Rückenmark zu den Motoneuronen gelangt, die dann letztlich unsere Muskeltätigkeit steuern und koordinieren.

Nicolelis hofft, dass der Weltfußballverband Fifa seinen Vorschlag aufnimmt, die Fußballweltmeisterschaft 2014 durch einen querschnittsgelähmten Jugendlichen eröffnen zu lassen. Noch sind zahlreiche bürokratische Hürden und wissenschaftliche Unwägbarkeiten zu überwinden, bevor dieser Traum Wirklichkeit werden kann: Vor drei Milliarden Zuschauern erhebt sich wie durch ein Wunder ein gelähmter Halbwüchsiger, schreitet über den Rasen, tritt den Ball und erzielt einen unvergesslichen Treffer für die Wissenschaft.