Aus: Gehirn&Geist, Mai 2010
Gedächtnislücken, mangelnde Konzentration, Probleme bei alltäglichen Erledigungen – viele Krebspatienten fürchten dauerhafte geistige Einschränkungen nach einer Chemotherapie. Münchner Forscher geben nun teilweise Entwarnung: In den meisten Fällen schädigt eine Behandlung mit Zytostatika das Gehirn nicht.
Mit der Diagnose "Krebs" beginnt für die Betroffenen ein Albtraum, der jedoch immer häufiger gut ausgeht. Mediziner können heute viele Tumorerkrankungen früh erkennen und behandeln. Auch die Genesungschancen bei Brustkrebs sind gestiegen, nicht zuletzt dank wirksamer Chemotherapien. Viele Frauen klagen nach der Behandlung mit Zytostatika – speziellen Giften, die Krebszellen angreifen – allerdings über kognitive Beeinträchtigungen. Sie können sich schlechter konzentrieren und weniger merken als früher. Oft brauchen sie auch länger, um einen Sachverhalt zu erfassen. Betroffene und auch Ärzte erklärten sich diese Symptome bislang als Nebenwirkung der Chemotherapie – so ist vielfach vom "Chemobrain" (Chemogehirn) die Rede.
Die aktuelle Ausgabe des Magazins Gehirn&Geist (05/2010) berichtet nun, dass die mentalen Probleme nach einer Chemotherapie meist nicht auf nachweisbaren Schäden im Gehirn zurückzuführen sind. Das fanden Forscher um Kerstin Hermelink von der Ludwig-Maximilians-Universität München heraus. Die Beeinträchtigungen scheinen eher die Folge von Ängsten und Depressionen seitens der Patienten zu sein. Zwar berichteten viele Studien in den letzten 15 Jahren von teils drastisch reduzierten kognitiven Leistungen bei Patienten, die eine Chemotherapie erhielten. Oft blieb jedoch unklar, ob die Schwächen nicht bereits vor der Behandlung bestanden oder andere Ursachen wie die allgemeine psychische Belastung hatten.
Hermelink und Kollegen untersuchten an rund 100 Brustkrebspatientinnen, ob sich subjektive Veränderungen der geistigen Leistungsfähigkeit während und nach einer Chemotherapie in neuropsychologischen Tests widerspiegelten – und fanden keinen Zusammenhang. Von den Patientinnen selbst wahrgenommene Einbußen gingen stattdessen mit erhöhter Depressivität einher.
So traten subjektive Beeinträchtigungen vermehrt bei Erkrankten auf, die zu negativer Stimmungen wie Scham- und Schuldgefühlen, Ärger und Feindseligkeit neigten. Die Psychoonkologen plädieren dafür, den stigmatisierenden Begriff "Chemobrain" aufzugeben und mögliche psychische Ursachen von kognitiven Problemen nach einer Chemotherapie mehr zu beachten.
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