Donnerstag, 14. Oktober 2010

Mikrogeschichte: Vergangenheit unter der Lupe

Zwei Historiker diskutieren über die Möglichkeiten und Grenzen der Mikrohistorie, die überregionale Entwicklungen in kleinen Gebieten nachspürt

Aus: epoc, epoc 6/2010

In Frankreich, Italien und den USA hat sich die Mikrohistorie längst etabliert, in Deutschland spielt sie kaum eine Rolle. Bei diesem geschichtswissenschaftlichen Forschungsansatz aus den 1970er Jahren gewinnen Forscher ihre Erkenntnisse durch die Analyse von überschaubaren Untersuchungseinheiten wie Dörfer, Häuser oder einzelne Akteure.

Im Zentrum steht dabei nicht das historische Detail an sich. "Der Mikrohistoriker bleibt nicht im Klein-Klein des lokalen Geschehens stecken", betont der Kieler Historiker Otto Ulbricht. Anhand der genauen Betrachtung einer kleinen Einheit trifft er Aussagen über größere geschichtliche Zusammenhänge. Im Spezial Mikrogechichte der aktuellen Ausgabe von epoc (6/2010) diskutiert Ulbricht mit dem Düsseldorfer Forscher Achim Landwehr über die Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens.

Trotz methodischer Differenzen sind beide Wissenschaftler davon überzeugt, dass Mikrohistoriker näher an die Menschen der Vergangenheit herankommen als ihre konventionell arbeitenden Kollegen, die große Entwicklungslinien zeichnen wollen. "Mikrogeschichtliche Untersuchungen verdeutlichen, dass das nicht immer geht. In einigen Fällen konnten sie sogar zeigen, dass diese großen Linien unter Umständen gar nicht stimmen", sagt Landwehr.

Einen Eindruck davon vermittelt die mikrohistorische Studie "Die verweigerte Ehe" von Otto Ulbricht. In seinem Artikel begleitet der Historiker die etwa 20-jährige Margaretha Dahlhusen aus Schleswig während der Jahre 1637 bis 1644 – in der Zeit hielt der Seidenkaufmann Willer Willers um ihre Hand an. Obwohl Margaretha ihn nicht leiden konnte, verlobte sich das Paar – getraut wurde es aber nie. In seinem Beitrag zeigt der Autor die Handlungsmöglichkeiten einer Frau der Frühen Neuzeit in dieser Situation auf. Er widerlegt damit die verbreitete These von Historikern, wonach die Eltern die Ehepartner für ihre Kinder auswählten – ohne dass die Nachkommen mitreden durften.

Landwehr und Ulbricht sprechen sich dafür aus, unterschiedliche Zugangsweisen und Perspektiven auf ein historisches Problem auch in Deutschland zu fördern, um so zu neuen Fragen und differenzierten Antworten zu kommen. "In England, Frankreich und den USA vertreten Forscher heute die Ansicht, dass die Mikrogeschichte einer der erfolgreichsten neuen Wege in der Geschichtswissenschaft ist", erklärt Ulbricht: "In Italien werden auf diesem Weg bereits Themen der Politikgeschichte erschlossen. Inzwischen gibt es auch in Deutschland hierzu erste Plädoyers."

Über epoc:
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