Montag, 28. April 2008

Klimawandel: Schmelzwasser schmiert abrutschende Eisschilde











Der Zerfall von Larsen B. Satellitenbilder vom 31. Januar 2002 (links) und 7. März 2002 (rechts) dokumentieren die jähe Auflösung der Schelfeistafel Larsen B. Bild: © Nasa, GSFC, Modis, Jeff Schmaltz

Der Anstieg des Meeresspiegels durch die Erderwärmung dürfte deutlich höher ausfallen als bisher prognostiziert.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Mai 2008

Die wohl schwerwiegendste mögliche Folge der globalen Erwärmung ist eine weiträumige Überflutung küstennaher Tiefländer. Die Eisschilde Grönlands und der Antarktis enthalten genug Wasser, um bei ihrem Schmelzen den Meeresspiegel um fast 70 Meter anzuheben. Die Niederlande würden das ebenso wenig überleben wie große Teile Norddeutschlands. Doch schon ein wesentlich geringerer Anstieg bedroht Millionen Menschen – etwa in Bangladesh.

Zwar schmilzt das Polareis vorerst noch sehr langsam. Nach den jüngsten Prognosen des UN-Klimarats (IPCC) soll der Meeresspiegel deshalb bis Ende dieses Jahrhunderts auch „nur“ um 20 bis 60 Zentimeter steigen. Doch inzwischen halten immer mehr Klimaforscher diese Schätzung für viel zu konservativ. Dazu zählt auch Robin E. Bell, Vorsitzende des Polar Research Board der National Academies in den USA. Wie sie im Maiheft von Spektrum der Wissenschaft darlegt, brauchen die polaren Eisschilde gar nicht zu schmelzen, um einen beträchtlichen und vor allem sehr schnellen Anstieg des Meeresspiegels zu bewirken. Es genügt, wenn Teile davon ins Meer abrutschen.

Die Indizien mehren sich, dass diese Gefahr real ist. Eine wichtige, bisher unterschätzte Rolle spielt dabei Schmelzwasser, das sich bei den relativ hohen Temperaturen in der warmen Jahreszeit in immer größeren Mengen auf der Eisoberfläche ansammelt und dann durch Spalten bis zum Grundgestein vordringt. Dort bildet es mit Sand und Schutt einen schlammigen Brei, der wie ein Schmierstoff wirkt und das darüber liegende Eis ins Rutschen bringt. Tatsächlich hat sich wohl durch diesen Effekt in Grönland die Geschwindigkeit der größten Auslassgletscher, durch die Inlandeis ins Meer gelangt, teilweise glatt verdoppelt.

Wie rasant sich die Dinge entwickeln können, führte 2002 der Zerfall des Eisschelfs Larsen B in der Westantarktis drastisch vor Augen. Innerhalb weniger Tage zerbröselte damals eine Eistafel von der Größe Mallorcas. Zwar schwamm sie vorher bereits auf dem Meer, so dass ihre Zerstörung den Meeresspiegel nicht beeinflusste. Aber das Schelfeis, das die Antartis umgibt, wirkt wie eine Barriere für die Eisströme aus dem Innern und bremst sie. Nach dem Zerfall von Larsen B haben sich Auslassgletscher, die dort mündeten, entsprechend beschleunigt.

Unter den kilometerdicken Eisschilden der Antarktis fanden Forscher sogar ein komplettes Drainagesystem aus Flüssen und Seen, deren Wasserstandsänderungen sich bis an die Eisoberfläche bemerkbar machen. Bekannt ist der 1994 entdeckte Wostoksee. Inzwischen sind rund 160 weitere hinzugekommen. Sie enthalten zwar kein Schmelzwasser von der Oberfläche, sondern nähren sich von Eis, das durch Reibung oder Erdwärme an der Gletschersohle taut. Dennoch spielt dieses Wasser im Untergrund für die Dynamik der Eisdecken eine bedeutende Rolle. Zum Beispiel bewegt sich der 800 Kilometer lange Recovery-Eisstrom in der Ostantarktis nahe seinem Ursprung über eine Seengruppe, an der sich seine Fließgeschwindigkeit, wie Robin Bell festgestellt hat, mehr als verzehnfacht.

In den derzeitigen Prognosen des IPCC sind solche Effekt nicht berücksichtigt. Deshalb steht zu befürchten, dass der Anstieg des Meeresspiegels bis Ende des Jahrhunderts deutlich höher ausfällt: Statt maximal 60 Zentimeter könnten es durchaus eineinhalb Meter werden.