Mittwoch, 22. Februar 2012

Gesunde Ernährung: Zu gesund macht auch krank















Gesunde Ernährung: Zu gesund ist auch nicht gut. Auch beim Essen gilt: Die richtige Mischung machts. Foto: obx-medizindirekt


Regensburg (obx-medizindirekt - internet-zeitung) – Ein Cheeseburger ist für sie der Inbegriff des Grauens. Gemüse darf höchstens eine Viertelstunde vor der Zubereitung geerntet worden sein. Rotes Fleisch ist völlig tabu. Die Milch fürs Müsli darf nicht in der Molkerei erhitzt worden sein. Obst darf nur aus politisch „korrekten“ Ländern stammen.

Die Liste der Eigenheiten, an denen das Weltbild jener fanatischen Gesundesser zerbricht, könnte unschwer um das Hundertfache verlängert werden. Ärzte haben jedenfalls in der selbstzerstörerischen Weise, gesund zu essen, eine seelische Krankheit entdeckt, die auch einen komplizierten Namen hat: „Orthorexia nervosa“, kurz Orthorexie (nach den griechischen Begriffen orthos = der „richtige“ und orexi = „Appetit“) - was so viel bedeuten soll wie „krankhaftes Streben, sich gesund zu ernähren“.

Übertreiben ist der falsche Weg

Natürlich ist nicht jeder, der vernünftig isst, ein Orthorektiker. Dazu gehört schon einiges mehr. Wenn jemand beispielsweise auf keine Einladung zum Abendessen mehr eingeht, sich weigert, in einem Restaurant zu essen, weil ihm die Zutaten verdächtig vorkommen, seine Freundschaften aufgibt und sich auf diese Weise völlig isoliert, dann liegt schon ein begründeter Verdacht nahe, dass es sich um eine psychische Störung handelt. Um so mehr, wenn solche Personen versuchen, ihr kulinarisches Weltbild mit missionarischem Eifer auf alle Bekannten zu übertragen. Oder wenn sie zum Einkaufen dreimal so lange wie andere Menschen brauchen, weil sie bei jedem Produkt die Liste der Inhaltsstoffe sorgfältig überprüfen müssen.

Vor rund zehn Jahren hat der amerikanische Arzt Steven Bratman das Krankheitsbild beschrieben und den Namen der Krankheit gleich mitgeliefert. Er wusste, wovon er sprach, denn er war selbst betroffen. Inzwischen hat er sein Problem im Griff. Er ernährt sich immer noch gesund, hat aber mit dem Missionieren aufgehört.

Kuriose Auswüchse

Dr. Bratman kritisiert heute die fanatischen Gesundesser, die wahre Glaubenskriege untereinander führten. Er übt unter anderem Kritik an Veganern, die überhaupt keine tierischen Produkte zuließen, an Ovo-Lacto-Vegetariern und an den Anhänger einer modifizierten Fleisch- und Fischdiät.

Essstörung als „Psycho-Ventil“?

„Der zwanghafte Drang nach möglichst gesundem Essen oder die Angst vor ungesundem Essen hat in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur einen Nährboden“, erklärt der bekannte Fernseharzt Dr. Günter Gerhardt, bekannt durch Sendungen wie „Die Sprechstunde“, „Mittagsmagazin“ oder „Fühl Dich wohl“. „Wäre das Thema 'gesundes Essen' gerade nicht en vogue, hätten diese Menschen ganz sicher etwas
anderes gefunden, worauf sich ihre Angst bzw. ihr Zwang konzentriert hätte.“

Deshalb besteht eine mögliche Behandlung dieser Essstörung auch nicht in abrupter Umstellung der Ernährungsgewohnheiten, sondern zuerst in dem Aufspüren der eigentlichen Motivation, die diesem strengen Ess-Reglement zugrunde liegt. Das kann eine gescheiterte Partnerschaft ebenso sein wie berufliches Versagen.

Bezeichnend ist bei Orthorektikern, dass von ihnen höchst unterschiedliche Ernährungs-Weltanschauungen vertreten werden: Das reicht von der Makrobiotik über „Low Carb“ (möglichst wenig Kohlenhydrate), Atkins-Diät (nur Eiweiß und Fett) und „extrem fettarm“ bis hin zu Moden wie der „South Beach-Diät“. Gemeinsam ist den Patienten nur die verbissene Konsequenz beim Durchhalten und bei der Propaganda für ihren Lebensstil.

„Naja, wenigstens ernähren die sich gesund“, wenden Sie jetzt vielleicht ein. „Dem ist leider nicht so“, sagt Dr. Gerhardt. „Denn durch die übertrieben strenge Auswahl der Nahrungsmittel kommt es zu extrem einseitiger Ernährung und damit früher oder später auch zu Mangelerscheinungen und Untergewicht.“ Nicht von ungefähr werden viele Patienten in Selbsthilfegruppen erkannt, die sie wegen ihrer „Magersucht“ aufsuchen.

Aber ärztliche Hilfe ist möglich. „Wenn sich der Orthorektiker am Ende der Therapie wieder aufs Essen freut und kein schlechtes Gewissen hat, wenn ihm auch mal ein Burger geschmeckt hat, dann hat er seine Lebensfreude wiedergefunden. Und es war eine erfolgreiche Behandlung“, konstatiert Dr. Gerhardt.

Ebenso empfand der Guru von Dr. Steven Bratman, als er seinem Schüler eines Tages sagte: „Ich hatte eine Erleuchtung nachts im Traum: Anstatt meine Bohnensprossen alleine zu verzehren, wäre es doch besser, künftig eine Pizza im Kreis meiner Freunde zu genießen.“ Dem schloss sich dann auch Dr. Bratman an. Und war geheilt.