Heidelberg. Künstlerisch begabte Kinder sehen die Welt anders als ihre Altersgenossen. Wie daraus ein besonderes Talent zum realistischen Zeichnen resultiert, berichtet das Magazin "Gehirn und Geist" in seiner aktuellen Ausgabe (3/2013)
Aus: Gehirn und Geist, April 2013
Viele Kinder malen für ihr Leben gern. Normalerweise sind die Bilder von Zweijährigen jedoch noch sehr abstrakt: Ein Strich soll einen Apfel darstellen, ein Kreis einen menschlichen Körper. Künstlerische Frühentwickler dagegen beginnen schon vor dem zweiten Geburtstag gegenständlich zu malen. Ganz ohne fremde Hilfe entdecken sie Jahre vor ihren Altersgenossen, wie sie den Eindruck räumlicher Tiefe erzeugen – etwa durch Verkürzungen, Überdeckung oder Schattierung. Zugleich sind die Betreffenden hoch motiviert, ihre zeichnerischen Fertigkeiten zu verfeinern. Die Werke von künstlerisch begabten Kindern sind außerdem oft besonders farbenprächtig, ausdrucksstark und ausgewogen komponiert.
Sind die "kleinen Picassos" vielleicht einfach klüger als andere? Zwischen der Fertigkeit, wirklichkeitsgetreu zu zeichnen, und dem IQ besteht an sich kein Zusammenhang. Beobachtungen an so genannten Savants – Autisten mit einer Inselbegabung – bestätigen das: Trotz einer ausgeprägten Lernschwäche zeigen diese mitunter großes künstlerisches Können. Kinder, deren realistisches Darstellungsvermögen das altersgemäße Niveau weit übersteigt, unterscheiden sich demgegenüber vermutlich in ihrer Wahrnehmung – in der Art, wie sie Seheindrücke verarbeiten.
So haben sie meist eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und sind in der Lage, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Konturen von Dingen zu fokussieren, einschließlich der optischen Verzerrungen, die dadurch entstehen, dass Objekte in eine tiefere Ebene zurückweichen und dadurch kleiner erscheinen. So "sieht" ein normal entwickeltes Kind die Ränder einer Straße parallel, weil es weiß, sie sind parallel. Ein kunstbegabtes Kind dagegen schaltet sein Wissen über Straßen aus und bemerkt so, wie die Linien in der Ferne zusammenlaufen.
Künstlerische Frühbegabung könnte sich also daher rühren, dass sich die Kinder vom Ganzen lösen und sich auf Teile eines Objekts oder einer Szene konzentrieren können. Darauf deuten auch Untersuchungen mit dem so genannten Mosaiktest hin, der visuelle und motorische Fähigkeiten misst. Die Kinder sollten dabei mit rot-weißen Klötzen ein vorgegebenes Muster nachbilden. In den Vorlagen waren entweder die einzelnen Klötze eingezeichnet oder aber das ganze Muster ohne Begrenzungslinien. Die erste, leichtere Version meistern die meisten Kinder gut, bei der zweiten dagegen schnitten jene mit einem Talent zum realistischen Zeichen deutlich besser ab.