Heidelberg. Keine andere Galaxie können wir in solchem Detailreichtum erforschen wie unsere eigene, die Milchstraße. Und doch fällt es uns gerade hier besonders schwer, einen Überblick zu gewinnen, weil wir mit unserem irdischen Standort mitten drin sitzen. Von den vermutlich 200 Milliarden Sternen, aus denen die Milchstraße besteht, können wir mit bloßem Auge in einer dunklen, klaren Nacht höchstens 3000 wahrnehmen. Selbst die umfangreichsten Kataloge, die mit Hilfe von Teleskopen auf der Erde und im Weltraum erstellt wurden, verzeichnen nur rund eine Million Sterne mit ihrer genauen Position am Himmel und ihrer Helligkeit – das ist weniger als ein Hunderttausendstel des gesamten Sterneninventars der Milchstraße.
Aus: Sterne und Weltraum, Mai 2013
Im Gegensatz zu fernen Galaxien, die wir mit Teleskopen als eigenständige Welteninseln mit einer Vielfalt von Formen und Größen abbilden können, wissen wir über den Aufbau unseres eigenen Sternsystems also recht wenig. Immerhin haben die Astronomen in den letzten Jahrzehnten herausgefunden, dass sich die Sterne unserer kosmischen Heimat in einer flachen Scheibe mit Spiralarmen und einer zentralen Verdickung anordnen. Über die grundlegenden Eigenschaften der Milchstraße, wie zum Beispiel die Anzahl der Spiralarme und die Gesamtmasse, wird aber noch heftig diskutiert.
Um diesem Manko abzuhelfen, hat die Europäische Raumfahrtorganisation ESA gemeinsam mit Wissenschaftlern und der Raumfahrtindustrie den Satelliten Gaia entwickelt. Dieser wird, wie Ulrich Bastian vom Astronomischen Rechen-Institut in Heidelberg in der Juniausgabe von "Sterne und Weltraum"berichtet, die Positionen, Entfernungen und Bewegungen von rund einer Milliarde Sternen messen. Daraus lässt sich nicht nur die räumliche Struktur der Milchstraße aufklären, sondern auch ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte erschließen.
Gaia erreicht dabei eine Präzision wie noch kein Messgerät vor ihm. Der Satellit erfasst die winzige Pendelbewegung, die jeder Stern im Laufe eines Jahres am Himmel ausführt. Dieser perspektivische Effekt ist auf den Umlauf der Erde um die Sonne zurückzuführen und umso kleiner, je weiter der betreffende Stern von uns entfernt ist. Diese Pendelbewegung, die so genannte Parallaxe, ist ein Maß für die Entfernung eines Sterns. Um sie zu erfassen, muss Gaia sehr kleine Positionsveränderungen registrieren. Die Aufgabe ist durchaus als Herausforderung zu betrachten: Denn sie ist gleichbedeutend damit, auf dem Mond eine Positionsverschiebung von nur vier Zentimetern zu erkennen.
Aus der gemessenen Position und der – über die Parallaxe – ermittelten Entfernung einer Vielzahl von Sternen lässt sich der räumliche Aufbau der Milchstraße ableiten. Also gewissermaßen eine Momentaufnahme ihrer dreidimensionalen Struktur. Da die Sterne aber nicht ortsfest, sondern alle mehr oder weniger stark in Bewegung sind, muss Gaia zusätzlich für alle untersuchten Objekte noch drei Geschwindigkeitskomponenten messen. Letztlich erfasst Gaia also ein sechsdimensionales Abbild unserer Milchstraße.
Dieser revolutionäre Datensatz alleine würde bereits unser Verständnis von der geometrischen Struktur und dynamischen Funktionsweise der Milchstraße enorm erweitern und präzisieren. Aber das Gaia-Projekt wird, wie Bastian erläutert, noch weiter gehen. Die Daten von Sternen unterschiedlicher Typen, Massen, Altersklassen und chemischer Zusammensetzung zeigen den Wissenschaftlern verschiedene Ausschnitte aus der Entstehungsgeschichte der Milchstraße. So liefern uns beispielsweise die massereichen jungen Sterne in den Spiralarmen Informationen darüber, wie dort heute Sterne entstehen. Dagegen lassen uns massearme alte Sterne in den Außenbezirken erschließen, wie die rätselhafte Dunkle Materie verteilt ist, von der noch niemand weiß, aus was sie besteht. Und es lässt sich erkennen, wie viele kleine Nachbargalaxien über die Jahrmilliarden mit der Milchstraße verschmolzen sind.
Deshalb wird Gaia die Sterne nicht nur als bewegte Lichtpunkte in unserer Galaxie, sondern so weit wie möglich als individuelle physikalische Objekte kartieren. Zu diesem Zweck werden neben den Positionen auch die Helligkeiten der Sterne in mehreren Spektralbereichen gemessen. Selbst das – von Gaia überhaupt nicht direkt beobachtete – Gas- und Staubmedium in der Milchstraßenscheibe wird von der Mission intensiv durchleuchtet: In den Spektren vieler Sterne zeigen sich nämlich Strukturen, die von den Gas- und Staubschwaden verursacht werden, die das Sternenlicht auf dem Weg zur Erde durchlaufen hat.
Gaia wird indes nicht nur Licht in viele noch im Dunkeln liegende Geheimnisse unserer Heimatgalaxie bringen, sondern in nahezu jeden Winkel der heutzutage weitverzweigten astronomischen Forschung hineinleuchten. Fast nebenbei wird der Präzisionssatellit hunderttausende von bisher nicht bekannten Kleinkörpern des Sonnensystems aufspüren. Und er wird tausende von massereichen Planeten um andere Sterne entdecken, die mit den anderen üblichen Suchmethoden nicht auffindbar sind – denn die Anziehungskraft der Planeten, mag sie auch sehr gering sein, lässt die Position ihres jeweiligen Zentralsterns periodisch ganz leicht hin und her schwanken.
Hintergrund: Der Autor, Dr. Ulrich Bastian, ist seit 1982 am Astronomischen Rechen-Institut tätig, einem Teilinstitut des Zentrums für Astronomie der Universität Heidelberg. Er war wesentlich an der Auswertung der Daten des europäischen Astrometriesatelliten Hipparcos beteiligt. Seit 1994 bereitet er mit Kollegen aus Forschung und Industrie den Nachfolgesatelliten Gaia vor.
Der Satellit Gaia soll Ende September/Anfang Oktober 2013 vom Europäischen Raumfahrtbahnhof in der Nähe von Kourou in Französisch-Guayana starten. Er wird – wie die ESA-Weltraumobservatorien Herschel und Planck – in der Nähe des so genannten Lagrangepunktes L2 rund 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt auf der sonnenabgewandten Seite der Erde platziert. Wie Gaia die Positionen und Geschwindigkeiten der Sterne misst und wie er die enorme Genauigkeit erreicht, schildert der Autor in einem weiteren Artikel, der in der Juniausgabe von "Sterne und Weltraum" erscheint.