Mittwoch, 30. Oktober 2013

Das filmische Erbe zerfällt

Frankfurt am Main - Wenn die Politik den grassierenden chemischen Zerfall unseres filmischen Erbes weiter ignoriert, müssen wir in den kommenden Jahren mit dem Verlust der meisten Filme rechnen. Um den abzuwenden, werden bis zum Ende dieses Jahrzehnts Investitionen von  einer halben Milliarde Euro benötigt. Mit dieser auf Bund und Länder zurollenden Kostenlawine hat aber offenbar niemand gerechnet.

Beim Panel der B3 Biennale des bewegten Bildes »Wer hat Angst vorm Vinegar Syndrome?« am 31. Oktober von 19 bis 21 Uhr im Frankfurter Kunstverein diskutieren führende Köpfe der deutschen Filmarchive zum ersten Male öffentlich über den drohenden Verlust des deutschen Filmerbes und über Möglichkeiten, ihn abzuwenden.

Das Podium ist mit Claudia Dillmann (Deutsches Filminstitut), Dr. Michael Hollmann, dem Präsidenten des Bundesarchivs, Martin Koerber, dem Archivar der Deutschen Kinemathek, dem Filmjournalisten Daniel Kothenschulte, dem leitenden Filmtechniker Olaf Legenbauer (Omnimago) und mit Ernst Szebedits (Murnau-Stiftung) prominent besetzt. Es moderiert der Filmmacher und Filmhistoriker Helmut Herbst. Dass anstelle des ursprünglich für das Panel nominierten technischen Leiters Egbert Koppe nun der Präsident des Bundesarchivs höchstpersönlich anreist, macht die Brisanz des Themas deutlich.

Am meisten Sorgen bereiten den Archiven neben den leicht entflammbaren, »explosiven« Nitro-Filmen (Trägermaterial: Nitrozellulose/ Zelluloid) aus den ersten 50 Jahren der Filmgeschichte ironischerweise jene Filme, die seit den fünfziger Jahren auf den sogenannten Safety- Film (Trägermaterial: Azetat) aufgenommen wurden. Kinofilme, 8/16mm-Amateurfilme, Fotonegative, Magnet- und Mikrofilme auf Azetat-Basis, mithin alle Negative und deren Kopien in Farbe oder Schwarzweiß, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind, haben, wenn sie in einfach klimatisierten Räumen lagern - d. h. bei einer Raumtemperatur von 20 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchte - eine garantierte Lebenserwartung von nur 44 Jahren. Jenseits dieser vom Image Permanence Institute  (IPI) ermittelten Mindesthaltbarkeit beginnt das unkalkulierbare Risiko.

Azetat-Materialien, vor allem auch die frühen Magnetfilme (Perfobänder), werden bei höheren Temperaturen und erhöhter Luftfeuchtigkeit vom Schimmel und dem gefürchteten Vinegar-Syndrome (Essigsäure-Syndrom) befallen. Gegen diesen Zerfallsprozess (Hydrolyse) gibt es, wenn er einmal eingesetzt hat, kein Gegenmittel. Er führt garantiert zur völligen Zerstörung des Materials. In einem frühen Stadium lassen sich die befallenen Filme noch notdigitalisieren und auf modernen 35mm-Polyesterfilm (SW/3 Farbauszüge) ausbelichten. Das aber ist sehr teuer.

Auch die Lagerbedingungen im Bundesarchiv/Film, in dem auch die Deutsche Kinemathek ihre Bestände einlagert, sind, wie sich jetzt herausstellt, nicht optimal, wenn auch immer noch besser als die kaum noch zu verantwortende Lagerung in Privaträumen. In den Bunkern 3 und 4 des Bundesarchivs in Wilhelmshagen bei Berlin, in denen die Azetat/Schwarzweiß-Negative und Azetat/Schwarzweiß-Unikate lagerten, wurden bei nicht funktionierender Lüftung und zeitweise unzureichender Kühlung seit 1990/91 erhebliche Temperatur- und Luftfeuchte-Schwankungen in Kauf genommen. Die Klimadaten dieser Bunker sind erstaunlicherweise erst ab 2012 aufgezeichnet worden. So summieren sich die Spätfolgen einer bereits in den Jahren vor der Wende in der BRD unzureichenden Lagerung mit der aktuellen Notlage des Archivs. Punktueller Schimmelbefall, Vinegar-Syndrome und eine durch die Überschreitung des für Azetat-Schwarzweißfilme amtlich verordneten Klimas von 12 Grad C und 50 Prozent Luftfeuchte forcierte Alterung des Filmmaterials sind die Folge.

Doch für eine breit angelegte systematische Rettungsaktion durch Umkopierung und Digitalisierung fehlt das Geld. Während zum Beispiel Frankreich für die Digitalisierung und Umkopierung seines Film- Erbes in einem Zeitraum von 6 Jahren 400 Millionen Euro bereitstellt, sind es in Deutschland gerade mal 2 Millionen jährlich für ein paar bekannte Filmtitel.

Text: Helmut Herbst