Frankfurt am Main - Wenn
die Politik den grassierenden chemischen Zerfall unseres filmischen
Erbes weiter ignoriert, müssen wir in den kommenden Jahren mit dem
Verlust der meisten Filme rechnen. Um den abzuwenden, werden bis zum
Ende dieses Jahrzehnts Investitionen von einer halben
Milliarde Euro benötigt. Mit dieser auf Bund und Länder zurollenden
Kostenlawine hat aber offenbar niemand gerechnet.
Beim Panel der B3 Biennale des bewegten Bildes »Wer hat Angst vorm Vinegar
Syndrome?« am 31. Oktober von 19 bis 21 Uhr im Frankfurter Kunstverein
diskutieren führende Köpfe der deutschen Filmarchive zum ersten Male
öffentlich über den drohenden Verlust des deutschen Filmerbes und über
Möglichkeiten, ihn abzuwenden.
Das
Podium ist mit Claudia Dillmann (Deutsches Filminstitut), Dr. Michael
Hollmann, dem Präsidenten des Bundesarchivs, Martin Koerber, dem
Archivar der Deutschen Kinemathek, dem Filmjournalisten Daniel Kothenschulte, dem leitenden Filmtechniker Olaf Legenbauer (Omnimago) und mit Ernst Szebedits
(Murnau-Stiftung) prominent besetzt. Es moderiert der Filmmacher und
Filmhistoriker Helmut Herbst. Dass anstelle des ursprünglich für das
Panel nominierten technischen Leiters Egbert Koppe nun der Präsident des
Bundesarchivs höchstpersönlich anreist, macht die Brisanz des Themas
deutlich.
Am meisten Sorgen
bereiten den Archiven neben den leicht entflammbaren, »explosiven«
Nitro-Filmen (Trägermaterial: Nitrozellulose/ Zelluloid) aus den ersten
50 Jahren der Filmgeschichte ironischerweise jene Filme, die seit den
fünfziger Jahren auf den sogenannten Safety-
Film (Trägermaterial: Azetat) aufgenommen wurden. Kinofilme,
8/16mm-Amateurfilme, Fotonegative, Magnet- und Mikrofilme auf
Azetat-Basis, mithin alle Negative und deren Kopien in Farbe oder
Schwarzweiß, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts
entstanden sind, haben, wenn sie in einfach klimatisierten Räumen lagern
- d. h. bei einer Raumtemperatur von 20 Grad Celsius und 50 Prozent
Luftfeuchte - eine garantierte Lebenserwartung von nur 44 Jahren.
Jenseits dieser vom Image Permanence Institute (IPI) ermittelten Mindesthaltbarkeit beginnt das unkalkulierbare Risiko.
Azetat-Materialien, vor allem auch die frühen Magnetfilme (Perfobänder), werden bei höheren Temperaturen und erhöhter Luftfeuchtigkeit vom Schimmel und dem gefürchteten Vinegar-Syndrome
(Essigsäure-Syndrom) befallen. Gegen diesen Zerfallsprozess (Hydrolyse)
gibt es, wenn er einmal eingesetzt hat, kein Gegenmittel. Er führt
garantiert zur völligen Zerstörung des Materials. In einem frühen
Stadium lassen sich die befallenen Filme noch notdigitalisieren und auf
modernen 35mm-Polyesterfilm (SW/3 Farbauszüge) ausbelichten. Das aber
ist sehr teuer.
Auch die
Lagerbedingungen im Bundesarchiv/Film, in dem auch die Deutsche
Kinemathek ihre Bestände einlagert, sind, wie sich jetzt herausstellt,
nicht optimal, wenn auch immer noch besser als die kaum noch zu
verantwortende Lagerung in Privaträumen. In den Bunkern 3 und 4 des
Bundesarchivs in Wilhelmshagen bei Berlin,
in denen die Azetat/Schwarzweiß-Negative und Azetat/Schwarzweiß-Unikate
lagerten, wurden bei nicht funktionierender Lüftung und zeitweise
unzureichender Kühlung seit 1990/91 erhebliche Temperatur- und
Luftfeuchte-Schwankungen in Kauf genommen. Die Klimadaten dieser Bunker
sind erstaunlicherweise erst ab 2012 aufgezeichnet worden. So summieren
sich die Spätfolgen einer bereits in den Jahren vor der Wende in der BRD
unzureichenden Lagerung mit der aktuellen Notlage des Archivs.
Punktueller Schimmelbefall, Vinegar-Syndrome
und eine durch die Überschreitung des für Azetat-Schwarzweißfilme
amtlich verordneten Klimas von 12 Grad C und 50 Prozent Luftfeuchte
forcierte Alterung des Filmmaterials sind die Folge.
Doch für eine breit angelegte systematische Rettungsaktion durch Umkopierung und Digitalisierung fehlt das Geld. Während zum Beispiel Frankreich für die Digitalisierung und Umkopierung
seines Film- Erbes in einem Zeitraum von 6 Jahren 400 Millionen Euro
bereitstellt, sind es in Deutschland gerade mal 2 Millionen jährlich für
ein paar bekannte Filmtitel.
Text: Helmut Herbst