Donnerstag, 7. November 2013

Der ewige Streit um den Mittelpunkt Europas

Neualbenreuth / Flossenbürg (obx) - Um dieses Prädikat bewerben sich viele Städte: der Mittelpunkt Europas zu sein. Nicht der kulturelle oder wirtschaftliche, zumindest aber der geografische. Die Kandidaten sind nicht Berlin, München oder Prag, sondern kleine Ortschaften, die sich gerne mit einem klangvollen Namen schmücken wollen. Mehrere Ortschaften buhlen um dieses Etikett, zwei davon liegen mitten in der Oberpfalz. Doch wer denkt, sie liegen nur wenige Kilometer auseinander, täuscht sich. Die Anwärter sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in Tschechien, in Litauen und sogar in der Ukraine zu finden. Sie alle verbindet der Drang, irgendwie berühmt zu werden und auf den Karten unseres Kontinents einen ganz besonderen Platz zu finden.
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Alle vier besitzen ein Denkmal, das sie als geographischen Mittelpunkt der Alten Welt ausweisen soll und das von einer wissenschaftlichen Autorität ausgestellt wurde. Im Örtchen Dilowe in der Ukraine steht ein großer Braunbär. Auf dem Rücken trägt er ein Schild, das auf den zentralen Standort hinweist. Bereits 1887 haben hier Vermessungsexperten vom k.u.k. Militärgeographischen Institut Wien einen Gedenkstein errichten lassen.

Die österreichischen Vermessungsexperten scheinen mit diesen Markierungen aber nicht gerade wählerisch gewesen zu sein. Auch in Neualbenreuth in der Oberpfalz steht seit Sommer 1985 ein 17 Tonnen schwerer Granitstein, der den Mittelpunkt Europas versinnbildlichen soll. Er soll einen bereits 1864 von den Vermessern der österreichischen k. und k. Monarchie eingegrabenen Markstein ersetzen, der einst angeblich auch die Mitte Europas dokumentierte. Was allerdings die wenigsten wissen, die den Panoramablick über Oberpfälzer und Böhmerwald von der Gedenktafel aus genießen: Die offizielle Vermessungstafel, die die  kaiserlichen Militärgeografen vor rund 150 Jahren aufstellen ließen, stand ursprünglich wo anders. In Zeiten des Eisernen Vorhangs verlegten die Oberpfälzer kurzerhand auch den Mittelpunkt Europas, der bis dahin auf tschechischem Terrain lag, 450 Meter in Richtung Deutschland - und zwar durch offiziellen Beschluss des Marktrats der Gemeinde Neualbenreuth.

Doch auch in Hildweinsreuth in der Gemeinde Flossenbürg in der Oberpfalz  können sich die Bewohner und Besucher im Zentrum Europas fühlen. Dies wurde vom Institut für Geographie der Universität München berechnet. Eine große Granitplatte wurde 1985, nur zwei Wochen nachdem der Stein im benachbarten Neualbenreuth aufgestellt wurde, feierlich enthüllt. Der zweieinhalb Meter durchmessende Stein soll ebenfalls darauf hinweisen, dass sich hier - im Grenzgebiet zu Tschechien - der Mittelpunkt Europas befindet.

700 Kilometer südlich davon, im litauischen Bernotai, beruft man sich auf das Nationale Geographische Institut Frankreichs. Die Vermessungsexperten haben hier, rund 25 Kilometer nördlich der Hauptstadt Vilnius (Wilna) anhand digitalisierter Karten den angeblichen geografischen Mittelpunkt errechnet. Seitdem liegt nahe des kleinen Dorfes ein zentnerschwerer Granitstein mit der Aufschrift "Europos Centras". Selbst die litauische Botschaft in Deutschland wirbt auf ihrer Internet-Homepage mit der begehrten Auszeichnung.

Dem Mittelpunkt�Fieber scheinen auch die Tschechen zu erliegen. Sie verweisen auf einen 1872 an der Straße zwischen Eger und Karlsbad gesetzten Stein, der ebenfalls die geographische Mitte Europas anzeigen soll.

Streit gab es zwischen den Ortschaften bislang noch nicht. Schließlich will jeder nur ein wenig Geld mit diesem Etikett verdienen - weshalb sonst sollten Touristen nach Bernotai, Dilowe oder Hildweinsreuth kommen. Der Zusatz "Geografischer Mittelpunkt Europas" ist jedoch ein eingängiger und auch einträglicher Slogan für die Vermarktung seines Ortes, egal ob im Osten Bayerns, in der Ukraine oder in Litauen.

Aber wer hat nun wirklich Recht? Selbst eine exakte Wissenschaft wie die Geografie weiß auf die Frage keine genaue Antwort. Es gibt mehrere Verfahren zur Mittelpunktsbestimmung, eines davon kann auch zu Hause ausprobiert werden: "Kleben Sie eine Europakarte auf ein Stück Sperrholz oder Styropor", sagt Henning Walter vom Bundesamt für Kartographie in Frankfurt am Main. Auf einer Nadel und mit einer großen Portion Geduld muss das Brett dann ausbalanciert werden. Schwebt die Platte auf der Nadel, ist der Mittelpunkt gefunden. Einen Haken hat das Verfahren jedoch: "Die Erde ist nun mal eine Kugel", seufzt Henning Walter. Deshalb sei es nicht möglich, eine exakte zweidimensionale Karte zu erzeugen, erklärt der Vermessungstechniker. Die Europakarten sind deshalb immer auf irgendeine Weise fehlerhaft. Wie man die Karte nun ausschneidet, bleibt deshalb dem eigenen Gutdünken überlassen. Henning Walter sieht es gelassen: "Das Ergebnis ist zwar immer anders, aber es ist dafür immer richtig."