Ein Historiker zeigt, wie sich mit gedruckten Begräbnisreden Forschungslücken schließen lassen.
Aus: epoc, 3/2010
Im 17. und 18. Jahrhundert sollten Leichenpredigten die Hinterbliebenen trösten. Heute nutzen Historiker diese Quellengattung, um zum Beispiel die Wanderrouten von Gesellen der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren und andere Forschungslücken zu schließen. Das berichtet Jörg Witzel von der Forschungsstelle für Personalschriften in Marburg in der aktuellen Ausgabe des Geschichtsmagazins epoc (3/10).
Als der Papiermacher Albinus Abt 1679 in Thüringen stirbt, hat der 60-Jährige einiges hinter sich. Wie aus seiner Leichenpredigt hervorgeht, hat er als junger Mann eine ausgedehnte Gesellenwanderung unternommen. Die Druckschrift gibt detailliert Auskunft über seine Reiseroute, die Arbeitsbedingungen und Erlebnisse unterwegs. Sie ist ein Beispiel für eine Gattung, die vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Blütezeit hatte und bereits 100 Jahre später ihren Niedergang erlebte. Die hohen Kosten für eine übliche Auflage von 100 bis 300 Exemplaren konnten sich jedoch nur wohlhabende Bürger und Adelige leisten.
Die Lebensläufe in den Leichenpredigten bieten eine Fülle von biografischen Informationen. Sie sind für viele historische Fragestellungen von großem Wert. Neben älteren Disziplinen wie der Sozial- und Mentalitätsgeschichte profitieren vor allem moderne, interdisziplinäre Forschungsrichtungen wie beispielsweise die Psychohistorie, die Geschlechtergeschichte oder die historische Kulturanthropologie von dieser Gattung. Quantitative Untersuchungen zur Geschichte der Gesellenwanderung auf Grundlage dieser Quellen bilden bis heute noch eine Forschungslücke.
Als junger Mann begab sich Abt auf seine Gesellenwanderung – ein Brauch, der seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum belegt ist. Papiermachergesellen zogen dabei von Mühle zu Mühle und hatten dort ein Anrecht auf Übernachtung und Verpflegung. Viele müssen sich auf den Weg gemacht haben, denn in den größeren Städten stammte der überwiegende Teil der Handwerkergesellen ursprünglich aus der Fremde.
Einige von ihnen überschritten die von ihren Zünften vorgeschriebene Wanderzeit deutlich und legten weite Strecken zurück, andere hingegen wanderten nur über einen kurzen Zeitraum und entfernten sich kaum von ihrem Herkunftsort. Obwohl die Bereitschaft, ins Ausland zu wandern, während der Frühen Neuzeit abnahm, überwanden viele der jungen Männer – wie Abt – auch Sprachgrenzen. Der Papiermacher zog durch Schlesien, Mähren, Böhmen, Österreich, Ungarn und Bayern. Über das Nürnberger Land, ein Zentrum seines Handwerks, wanderte er nach Schwaben und in die Schweiz. Schließlich gelangte er nach Straßburg.
Der Vergleich mit den Leichenpredigten anderer Papiermacher belegt, dass es zwar bestimmte Gegenden gab, die sich auf dieses Handwerk spezialisiert hatten. Doch keine jener Gewerbelandschaften schien so wichtig zu sein, dass ein Geselle sie unbedingt kennen lernen musste. Übereinstimmend berichten sie jedoch von dem Unglück und Elend, das sie auf ihren Reisen erlebten.
Über epoc:
epoc, das Magazin für Geschichte, Archäologie und Kultur, erscheint seit 2004. Sechsmal pro Jahr vermitteln Forscher und Fachjournalisten auf mehr als 100 Seiten fundiert und unterhaltsam Wissen über historische Themen und zeigen spannende Zusammenhänge aus Kunst, Kultur und Geistesgeschichte auf. Ein jeweils umfassend beleuchtetes Titelthema zu zentralen Ereignissen, Persönlichkeiten und Kulturen der Welt sowie spannende Reportagen und Essays überzeugen alle zwei Monate rund 40 000 Leser.
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