Über dem antiken Knossos erhob sich der größte Bau Kretas. Regierte dort der legendäre König Minos?
Aus: epoc, 4/2010
"Knossos heißt eine mächtige Stadt, da Minos vorzeiten neun Jahre lang König gewesen." So schrieb es einst Homer, doch schon zu seinen Lebzeiten waren Minos und sein Volk nur noch Legende. Es war deshalb eine Sensation, als der britische Archäologe Arthur Evans Anfang des 20. Jahrhunderts auf Kreta die Ruinen eines gewaltigen Gebäudekomplexes ans Licht brachte, der seines Erachtens nur eines gewesen sein konnte: der Palast eines Königs. Wie ein ägyptischer Pharao habe dieser "Minos" Evans zufolge sowohl weltliche als auch religiöse Funktionen inne gehabt.
Doch gut ein Jahrhundert später sehen Forscher manches in anderem Licht, wie zwei Archäologen in der neuen Ausgabe von epoc (4-2010) erläutern. Denn Kreta unterschied sich von anderen Hochkulturen des 2. vorchristlichen Jahrtausends, ob Altägypten oder Babylon. In fast allen anderen Staatswesen jener Zeit pflegten sich die Herrscher in Bildnissen zu verewigen – nicht so auf der Insel. Auch in den spärlichen, bis jetzt entzifferten Texten ist weder von Thronbesteigungen noch von Siegen der Könige die Rede. Auch Königsgräber kamen bislang nicht zum Vorschein. Kurz: Kretas Herrscher bleiben auf eigentümliche Weise anonym.
Daher kamen in den letzten Jahren alternative Gesellschaftsmodelle auf, in denen dem Palast von Knossos mal zentrale Bedeutung für Verwaltung und Religion zugesprochen wurde, mal lediglich die eines überregionalen Kultplatzes. Dementsprechend hätte auf Kreta mal ein König regiert, mal eine Handvoll Aristokraten, mal eine "Faktion", also eine Gruppe aus Angehörigen aller Gesellschaftsschichten und ihrem Anführer.
Dreh- und Angelpunkt aller Argumente ist der Gebäudekomplex von Knossos, das zentrale Bauwerk der minoischen Gesellschaft. Die Funde der Archäologen verraten: Er besaß Räume mit kultischer Bedeutung, aber auch Werkstätten, Magazine und Archive. Offenbar handelte es sich um eine gut organisierte, multifunktionale Einrichtung. Stand er auch jedermann offen, wie es die Faktionentheorie unterstellt? Vertreter dieser These glauben, dass der Zentralhof des Palasts wie auch der im Westen an den Komplex grenzende Hof der Veranstaltungsort gemeinsamer Feiern gewesen war, in denen sich die Minoer ihrer Vergangenheit erinnerten und so eine gemeinsame Identität gewannen.
Dagegen spricht ein Gedankenexperiment: Versetzt man sich in das 2. Jahrtausend zurück und nähert sich von der Stadt aus der Anlage, versperrt die geschlossene Westfassade den Weiterweg. Zwei schmale Eingänge sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass nur Auserwählte den Palast betreten durften. Das Volk mochte sich auf dem Westhof versammeln, aber nur wenige gelangten weiter. Und vermutlich eine noch kleinere Zahl hatte Zutritt zu den kultischen Kernbereichen der Gebäude wie jenen Raum, in den zur Wintersonnenwende das Licht durch Flügeltüren auf einen steinernen Thron fiel. Mit anderen Worten: Die Macht lag auch auf Kreta im 2. Jahrtausend v. Chr. in wenigen Händen. Ob aber ein König an der Spitze der minoischen Gesellschaft stand oder eine kleine Gruppe Adliger, das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Gewissheit sagen.
Über epoc:
epoc, das Magazin für Geschichte, Archäologie und Kultur, erscheint seit 2004. Sechsmal pro Jahr vermitteln Forscher und Fachjournalisten auf mehr als 100 Seiten fundiert und unterhaltsam Wissen über historische Themen und zeigen spannende Zusammenhänge aus Kunst, Kultur und Geistesgeschichte auf. Ein jeweils umfassend beleuchtetes Titelthema zu zentralen Ereignissen, Persönlichkeiten und Kulturen der Welt sowie spannende Reportagen und Essays überzeugen alle zwei Monate rund 40 000 Leser.
Unter http://www.epoc.de finden alle historisch Interessierten Kurzmeldungen und aktuelle Ausstellungstipps. Ein Newsletter und die Chronologs, das Blogportal für Fragen zur Vergangenheit und ihrer Erforschung, halten Sie täglich auf dem Laufenden.