Donnerstag, 1. Juli 2010

Die zwei Gesichter der Zeit

Für die Menschen des Alten Ägypten war Zeit keine Einbahnstraße, sondern hatte zwei Aspekte: zyklische Wiederholung und ewige Dauer.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, Juli 2010

Das Heute ist morgen schon Vergangenheit. Und weil wir uns an Vergangenes erinnern können, nicht aber an Zukünftiges, unterteilen wir die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch diese Gliederung ist nicht von der Natur vorgegeben, sondern entspricht lediglich unserer Wahrnehmung. Die Kultur des Alten Ägypten wie auch andere Zivilisationen der Antike kannte keinen Zeitpfeil, hatte nicht die Vorstellung, stetig auf die Zukunft hinzulaufen. Die Ägypter unterschieden vielmehr zwei Aspekte der Zeit, die sie Neheh und Djet nannten, wie der bekannte Ägyptologe und Kulturhistoriker Jan Assmann in der Juli-Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft" erzählt.

Dabei entsprach Djet der unwandelbaren Dauer, des Vollendeten. Die berühmten Pyramiden und Grabtempel der Pharaonen waren der Stein gewordene Ausdruck dieser Form von Ewigkeit. Neheh entsprach all den kreisläufigen Bewegungen des Alltags, wie den Auf- und Untergängen der Sonne, dem Lauf des Mondes, dem An- und Abschwellen des Nils, dem Wachsen und Welken aller Pflanzen, dem Zyklus von Geburt und Tod. Wie in Mesopotamien auch beobachteten Priester den Himmel, doch nicht um Auffälligkeiten zu entdecken, die als Zeichen verstanden wurden, um die Zukunft vorherzusagen. In Ägypten galt die Aufmerksamkeit den Regeln, den zyklischen Prozessen, in denen sich dem Ägypter die Göttlichkeit des Kosmos offenbarte. Neheh war deshalb auch die Zeit des Kults, denn jeder Ritus diente in allererster Linie der In-Gang-Haltung von Neheh-Zeit und damit der göttlichen Ordnung.

Djet war Ewigkeit, damit aber auch die Zeit der Rechenschaft und der Verantwortung: Jeder Mensch wurde nach den Lehren der Ägypter in der Unterwelt für sein Handeln und Unterlassen zur Rechenschaft gezogen. Nur wenn er der Ma’at genügt hatten – der Begriff stand für Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung – durfte er auf Unsterblichkeit hoffen. Der Her der Unterwelt Osiris und ein Totengericht hatten darüber zu entscheiden. Ewige Dauer war also nicht nur eine Sache der Monumente, sondern auch der Moral.

Das besondere der ägyptischen Zeit-Konstruktion ist nicht nur die Unterscheidung, sondern auch die Verbindung der beiden Aspekte. Erst zusammen ergaben Neheh und Djet die Zeit als Ganzes. Viele Darstellungen des Sonnengottes zeigen deshalb, wie er bei Tage den Himmel befährt und bei Nacht Osiris in der Unterwelt bestrahlt. Um Mitternacht verschmolzen Re und Osiris, verbanden sich Neheh und Djet.

Auch der Mensch lebte in beiden Zeiten zugleich. Im Vollzug der Riten gewann er Anteil an Neheh, durch die Errichtung der Monumente stellte er sich in die Djet-Zeit. Nach dem Tode wollte er in die kosmische Zeit eingehen, die beide Aspekte aufweist. Im Balsamierungsritual sprach der Priester deshalb die rituellen Worte: "Möge dein Ba existieren, indem er im Neheh lebt, wie Orion im Leib der Himmelsgöttin; und indem dein Leichnam dauert in der Djet wie der Stein des Gebirges."