Aus: Spektrum der Wissenschaft, Juli 2010
Schon bei den frühen Wirbeltieren lohnte sich eine Aufgabenteilung beim Endhirn
Links im Gehirn sitzen die Sprache und das analytische Denken. Die rechte Hemisphäre unseres Großhirns ist für das Raumerfassen zuständig, auch für künstlerisches Gestalten. Sogar für viele Linkshänder gilt anscheinend diese Arbeitsteilung.
Hirnforscher und Verhaltensphysiologen begriffen nur langsam, dass die Unterschiede zwischen den beiden Hirnseiten kein exklusiv menschliches Phänomen darstellen. Es entstand nicht etwa erst, als frühe Menschen Sprache erwarben. Rechts- und Linkshänder – besser gesagt Rechts- und Linkstypen – gibt es bei den Wirbeltieren anscheinend durchgehend, bis hin zu den Fischen. Und erstaunlicherweise dominiert bei den verschiedensten Tierarten wie bei uns bei der Mehrzahl der Individuen die rechte Körperhälfte – das heißt die linke Hirnseite, denn die Nerven verlaufen überkreuz.
Drei Wissenschaftler erzählen in der Juli-Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft" von der Evolution der beiden Hirnseiten: der Psychologe Peter F. MacNeilage von der Universität Texas, die Neurowissenschaftlerin Lesley J. Rogers von der Universität von Neuengland in Australien sowie Giogio Vallortigara von der Universität Trient in Italien. Sie haben zum Beispiel untersucht, dass Hühnerküken es sehr gut lernen, gleichzeitig auf einen Habicht zu achten und Futterkörner zwischen kleinen hellen Steinchen zu finden. Doch wenn man Hühnereier bis zum Schlupf im Dunkeln hält, gelingt den Küken nicht beides zugleich. Die Erklärung: Die beiden Großhirnhemisphären entwickeln sich dann nicht mehr unterschiedlich, weil das oben im Ei liegende Auge kein Licht empfängt. Offenbar ist solch ein Küken überfordert, wenn es zwei Dinge zugleich tun soll. Verfügt es hingegen über zwei verschiedene Hirnseiten, die sich die Aufgaben teilen, hat es damit keine Schwierigkeiten.
Auch andere Wirbeltiere, etwa Kröten, registrieren Gefahr mit der rechten Hirnhälfte und fressen linksgesteuert. Sie schnappen darum nach einem Insekt oder Wurm erst, wenn die Beute rechts in ihrem Blickfeld erscheint. Ein Feind von rechts kümmert sie dagegen nicht. Nur, wenn die Schlange von links kommt, springen sie weg.
Diese Unterscheidung scheint früh in der Wirbeltierevolution aufgetreten zu sein. Die linke Hirnseite, erklären MacNeilage und seine Koautoren, sei ursprünglich für Alltagsgeschehen und Routineverhalten zuständig gewesen, etwa für das Fressen. Die rechte dagegen widmete sich überraschenden Ereignissen und plötzlich auftauchenden Gefahren. Während die linke Hemisphäre auf Einzelheiten achtete, bewertete die rechte das große Ganze. Die Umgebung etwa sieht aus jeder Position anders aus. Um das Umfeld trotzdem wiederzuerkennen, muss man übergeordnete Aspekte bewerten. Darum dürfte sich diese Seite mit der räumlichen Wahrnehmung befassen.
Auch individuelle Gesichter erkennt bei uns die rechte Hirnseite. Bei anderen Säugetieren und bei Vögeln ist das genauso. Bei einer sozialen Begegnung kommt es oft darauf an, schnell zu erfassen, wen man vor sich hat – sich also der Überraschung zu stellen. Betrachtet man die Aufgaben der beiden Großhirnhemisphären aus der Evolutionsperspektive, erstaunt es nicht einmal mehr, dass Rechtshänder bei unerwarteten Ereignissen schneller mit der linken Hand reagieren.
Und warum sitzt das Sprachzentrum links? MacNeilage vermutet, Sprechen habe mit Schmatzlauten und Kaubewegungen angefangen. Die Begleitgeräusche beim regelmäßigen Öffnen und Schließen des Mundes wurden zu bedeutungshaltigen Silben mit Vokal und Konsonant, wie bei „mama“. Die bei vielen Menschen stark ausgeprägte Rechtshändigkeit führen sie darauf zurück, dass Primaten ihr Futter immer raffinierter suchten. Die direkteste Verbindung von der linken Hirnseite, die das Fressen steuert, verläuft nun einmal zur rechten Hand.