Paläogenetik und computergestützte Linguistik liefern neue Indizien zum Verlauf der Sprachausbreitung. Doch das Rätsel ist noch keineswegs gelöst.
Aus: Spektrum der Wissenschaft, August 2010
Archäologen streiten darüber, ob die heute in Europa dominanten Sprachen mit Steppenvölkern der Kupferzeit aus Südrussland kamen – oder ob die ersten Bauern aus Anatolien sie Jahrtausende früher mitgebracht hatten. Statistische Sprachanalysen datieren die indogermanische Ursprache weiter zurück als traditionell vermutet. Das passt zur Anatolienthese.
Eine genetische Untersuchung an prähistorischen Bauern Nordmitteleuropas zeigt: Die frühesten waren eingewandert und unterschieden sich deutlich von den modernen Europäern. Wahrscheinlich sind beide Thesen über die Ausbreitung des Indogermanischen zu einfach. Doch jede enthält, wie die Sprachwissenschaftlerin Ruth Berger in der August-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft berichtet, offenbar nur einen Teil der Wahrheit.
Eines ist – beinahe – sicher: Bevor die indogermanischen Sprachen Europa eroberten, wurde hier unter anderem etwas gesprochen, was mit dem heutigen Baskisch verwandt ist. Es gibt in West- und Mitteleuropa viele Flussnamen, die sich von baskischen Begriffen ableiten lassen. Aber wann und wie lösten indogermanische Sprachen die alteuropäischen Vorläufer ab?
Lange galt die Hypothese der litauisch-amerikanischen Archäologin Marija Gimbutas (1921–1994): Nomadische Reitervölker aus den Steppenregionen um das Schwarze und das Kaspische Meer hätten vor frühestens 6000 Jahren begonnen, sich in Wellen nach Europa und Asien auszubreiten. Eine konkurrierende Hypothese entwarf der britische Archäologe Colin Renfrew. Ihm zufolge stammen die Indogermanen ursprünglich aus Anatolien. Sie kamen viel früher, nämlich vor über 8000 Jahren, und brachten als Siedler die Landwirtschaft ins wilde, dünn besiedelte Europa.
Renfrews These ist schön, weil sie einfach ist: Europa hat mit dem Eindringen der Landwirtschaft seine stärkste prähistorische Umwälzung erfahren – da liegt es nahe, die Ausbreitung der indogermanischen Sprachen auf dasselbe Ereignis zurückzuführen. Allerdings setzt dies voraus, dass die Landwirtschaft tatsächlich durch Einwanderung in Europa eingeführt wurde. Genau daran zweifeln viele Archäologen. Nach einer gängigen Lehrmeinung ging die europäische Urbevölkerung selbst zur landwirtschaftlichen Lebensweise über, quasi angesteckt durch Kontakt mit Anatolien, aber ohne erheblichen Bevölkerungsaustausch.
Die konkurrierenden Annahmen über die "neolithische Revolution" in Europa – Einwanderung oder nicht – können nun direkt an fossilen Funden getestet werden. Forscher um Barbara Bramanti von der Universität Mainz isolierten aus 26 Skeletten der frühesten Ackerbauern Ostmitteleuropas so genannte mitochondriale DNA (siehe Kasten rechts unten). Die Bauern gehörten der bandkeramischen Kultur an, die vor etwa 7500 Jahren die landwirtschaftliche Epoche in unseren Regionen einläutete. Zusätzlich entnahmen die Forscher Proben von gleichzeitig lebenden Jägern und Sammlern.
Das Ergebnis: Die Jäger und die Landwirte waren sich in dem untersuchten DNA-Abschnitt extrem unähnlich. Sie schienen genetisch sogar weiter voneinander entfernt zu sein als australische Ureinwohner und Europäer. Die ersten Ackerbauern Mitteleuropas, die Bandkeramiker, waren demnach Einwanderer. Das passt bestens zu Colin Renfrews These, das Indogermanische sei mit anatolischen Bauern nach Europa gekommen. Renfrew vermutet den Ursprung dieser enormen Wanderwelle, die den weiträumigen Erfolg der indogermanischen Sprachen begründet, auf dem heutigen Balkan.
Allerdings gibt auch Belege für die frühe Anwesenheit von Indogermanen in der Schwarzmeerregion: die dortigen Flussnamen. Don, Donez, Dnjepr, Dnjestr, Donau enthalten allesamt einen indogermanischen Wortstamm, das altpersische und altkeltische Wort für Fluss (danu). Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo zwischen Renfrew und Gimbutas. Sicher aber lässt sich nur eines sagen: Bei diesem Thema sind die einfachen Hypothesen nicht unbedingt die besten.