Diese Künstler der Evolution dienen den Biologen als Modelle für verschiedenste Anpassungsprozesse
Aus: Spektrum der Wissenschaft, August 2010
Jeder glaubt Weberknechte zu kennen. Nur – die langbeinigen Wesen an unseren Zimmerdecken sind Zitterspinnen: somit "Echte" Spinnen, die Fäden aus Spinnenseide ziehen. Die Weberknechte dagegen gehören zwar auch zu den Spinnentieren, aber in eine eigene systematische Ordnung.
Spinndrüsen besitzen sie keine. Auch können sie nicht giftig beißen, wie der amerikanische Experte William A. Shear vom Hampden-Sydney College in Virginia betont. Der Biologe beschreibt und illustriert viele merkwürdige Erscheinungen dieser außergewöhnlichen Tiergruppe in der August-Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft".
Wer weiß schon, dass viele der bisher bekannten über 6000 Arten keinesfalls die extrem langen Beine besitzen, die wir mit dem Namen assoziieren? Manche kommen als Winzlinge daher, die fast wie Milben aussehen. Weberknechte in den Tropen sind oft groß und auffällig bunt gezeichnet. Die einzelnen Arten haben verschiedenste Abwehrstrategien ausgebildet. Einige verfügen über gewaltige Klauen, deren Biss selbst für Menschen empfindlich zu spüren ist. Andere sind mit Dornen ausgestattet, und viele Arten wirken geradezu bizarr, wie etwa ein Tier in Südamerika, dass am Kopf am Ende zweier langer "Arme" stachelbewehrte dicke Greifzangen trägt, mit denen es weit vom Körper entfernt Beute erwischt.
Für besonders interessant hält Shear die chemischen Abwehrtricks seiner Studienobjekte. Viele Arten besitzen spezielle Drüsen für ein ganzes Arsenal an widerlichen und schädlichen Stinkstoffen. Manchmal rieche es, so schreibt der Forscher, wie wochenlang getragene Sportsocken. Es gibt Weberknechte, die sich mit ätzenden Substanzen wehren. Einige erzeugen einen Stoff, der gefäßverengend wirkt, ähnlich wie bei bestimmten Dopingmitteln und in abschwellenden Nasensprays. Auch Nikotin als Abwehrgift kommt vor.
Bei uns heimische Weberknechte leben vor allem in Waldspreu, in verwilderten Gärten oder auch auf abgeernteten Feldern. Der Volksmund hat für sie viele Namen, "Schneider", "Schuster", "Kanker", in anderen Sprachen auch "Ernteknecht" oder "Schnitter". Biologen bezeichnen sie als "Opiliones", was sich nach griechisch und lateinisch für "Schäfer" herleitet. Denn in der Antike benutzten Schäfer Stelzen, um ihre Herden zu überblicken. Wozu manche Weberknechte so lange Beine benötigen, bis zu zwanzig Mal so lang wie der Körper, ist noch nicht klar. Vielleicht hilft das gegen den Angriff von Ameisen. Wahrscheinlich können sich die Spinnentiere aber damit auch energieeffizient federnd fortbewegen. Doch die langen Beine könnten auch eine Anpassung an das Klettern in wirrer Vegetation sein. Dabei wickeln die Tiere ihre "Füße" regelrecht um Halme oder Zweige.
Als Tiergruppe sind die Weberknechte uralt, wie Versteinerungen und Bernsteinfunde erweisen. Sie tauchten schon vor 400 Millionen Jahren auf, im Unteren Devon, in der Frühzeit der Landpflanzen und -tiere. Manche von ihnen haben sich seither fast gar nicht verändert – ein Zeichen dafür, wie gut sie sich mit ihrer Lebensweise in die Umwelt einfügen.