Freitag, 6. August 2010

Assyien: Lohnende Bigamie

Aus: epoc, Ausgabe 5/2010

"Puzur-Ischtar hat Ischtar-lamass zur Frau genommen. Wenn er sich von ihr scheiden lässt, soll er fünf Minen Silber zahlen. Er darf keine andere Frau nehmen außer seiner Ehefrau in der Stadt Assur." Obwohl die Familie den Assyrern heilig war, erlaubte ihre Rechtsprechung offenbar die Bigamie! Das jedenfalls suggeriert dieser Vertrag, der zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. in dem assyrischen Handelskontor Kanesch (heute Türkei) hinterlegt wurde. In Keilschrift verfasst regelt er die Bedingungen für eine Ehe zwischen einem in Assur verheirateten Mann mit einer Anatolierin.

Schnell kommen Klischees in den Sinn: In antiken Gesellschaften wurde Frauen oft nur ein geringer sozialer Rang zugemessen. Doch dieses Vorurteil führt hier in die Irre, wie die französische Assyriologin Cécile Miche in der neuen Ausgabe von epoc, 5/2010 darlegt. So schrieb ein Assyrerin ihrem Mann in der Ferne: "Achte darauf mir den Gegenwert meiner Stoffe in Silber zu schicken, damit ich Gerste kaufen kann!" Einen solchen Ton kann sich wohl nur erlauben, wer auf Augenhöhe verkehrt.

Tatsächlich belegen Briefwechsel und Verträge, dass diese Bigamie strengen Regeln unterlag: Diese Konstruktion galt für Fernhändler, die über Jahre hinweg Tausende Kilometer fern von Assur lebten – und durch ihre Geschäfte den Wohlstand ihrer Familien wie der Heimatstadt mehrten. Während dieser Zeit teilte der Mann quasi monogam mit der angetrauten Einheimischen Tisch und Bett; mit der Rückreise wurde die Zweckehe aufgelöst.

Die daheim gebliebene Gattin führte in Assur den Haushalt und die Geschäfte weiter. Sie produzierte Textilien als Handelswaren für ihren Mann und erwarb so eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Eigenständigkeit. Die Anatolierinnen erhielten, wenn alles vertragsgemäß lief, eine beachtliche Absicherung für das weitere Leben. Denn die in dem oben zitierten Vertrag genannten "fünf Minen Silber" waren knapp 2,5 Kilogramm des Edelmetalls, was etwa dem Jahreseinkommen von 250 Arbeitern entsprach.

Allerdings sind nur wenige Briefe anatolischer Frauen erhalten, sodass deren Sicht der Dinge schlecht dokumentiert ist. Mindestens ein Fall ist bekannt, in dem sich alle Hoffnungen auf ein besseres Leben zerschlugen: Ins Unglück fiel die Anatolin Kunnaniya, deren Mann vor Ende des Ehevertrags starb. Seine assyrische Familie reiste nach Kanesch – und trug allen Besitz fort. Kunnaniya blieb nichts, nicht einmal ein Anteil am Erbe für die gemeinsame Tochter.

Über epoc:
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