Montag, 30. August 2010

Mit der Internationalen Raumstation auf der Suche nach der Dunklen Materie

Aus: Spektrum der Wissenschaft, September 2010

Am 26. Februar 2011 wird es so weit sein: Eines der ambitioniertesten astrophysikalischen Grundlagenexperimente hebt mit dem Spaceshuttle Endeavour vom John-F.-Kennedy-Raumfahrtzentrum in Florida ab.

Rund einen halben Tag später wird es bei seinem Ziel in 400 Kilometer Höhe über dem Erdboden angelangt sein, der Internationalen Raumstation (ISS). Dort fährt der Shuttle seinen Roboterarm aus, hebt das Alpha-Magnet-Spektrometer (AMS) aus der Ladebucht und reicht es an den Roboterarm der ISS weiter. Dieser, gesteuert von den Astronauten an Bord der ISS und des Shuttles, manövriert AMS erst an seine endgültige Position.

Nach mehr als zehn Jahren Bau- und Entwicklungsarbeiten schlägt dann endlich die Stunde der Astroteilchenphysiker. Bis über das Jahr 2020 hinaus soll AMS die kosmische Strahlung beobachten und so vor allem eines der größten Rätsel der Astrophysik lösen helfen: das der Dunklen Materie.

In der Septemberausgabe von Spektrum der Wissenschaft berichtet Stefan Schael von der RWTH Aachen, der mit seiner Arbeitsgruppe die deutschen Beiträge zum AMS-Projekt koordiniert und zentrale Bausteine zu dem 1,5 Milliarden Euro teuren System beigesteuert hat, gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Jan Hattenbach über das Vorhaben. In gewisser Weise ist das fast sieben Tonnen schwere Instrument eine Kamera für geladene Teilchen. Statt aber Licht verschiedenster Wellenlängen zu registrieren, "fotografiert" AMS die kosmische Partikelstrahlung über einen weiten Energiebereich hinweg. 2000 Bilder pro Sekunde schafft das hochkomplexe Gerät, und sein "Aufnahmechip", dessen Auflösung 200 000 Pixel beträgt, misst gleich sechs Quadratmeter.

Es fahndet insbesondere nach Antielektronen, so genannten Positronen, denn diese könnten Antworten auf zentrale Fragen der Astrophysik und Kosmologie liefern. Positronen sollten in der kosmischen Strahlung eigentlich nur als Sekundärteilchen enthalten sein: Sie entstehen, wenn Protonen auf interstellare Materie prallen. Doch es scheint mehr Positronen zu geben als die Forscher erwartet haben. Genau um die Suche nach solchen "überschüssigen" Teilchen geht es bei dem Experiment, denn sie könnten indirekt Kunde geben von anderen Partikeln, von denen wir bis heute nicht sicher wissen, ob es sie gibt: WIMPs. Aus solchen schwach wechselwirkenden Teilchen könnte die so genannte Dunkle Materie bestehen, die Forschern zufolge den Großteil der Materie im Universum stellt. Erst die zusätzliche Schwerkraft dieser exotischen Materieform macht es möglich, dass sich normale Materie zu Planeten, Sternen und Galaxien zusammenballen konnte.

Unglücklicherweise sind die Dunkle-Materie-Teilchen ausgezeichnete Versteckspieler: Außer durch ihre Schwerkraft machen sie sich kaum bemerkbar, weshalb selbst AMS die WIMPs nicht direkt registrieren kann. Doch wenn diese mit ihresgleichen kollidieren, zerstrahlen sie – und aus der dabei frei werdenden Energie entstehen dann wieder gewöhnliche Partikel, unter anderem Positronen. Diese mischen sich unter die Teilchen der kosmischen Strahlung und können als so genannter Überschuss im Energiespektrum in Erscheinung treten.

Tatsächlich stießen Forscher in der kosmischen Strahlung bereits auf überschüssige Teilchen. So entdeckte etwa das Ballonexperiment HEAT bei zwei Flügen in den Jahren 1995 und 2000 mehr Positronen als erwartet. AMS soll nun nachweisen, dass dies auch bei höheren Energien der Fall ist. Aus den Messergebnissen – gemeinsam mit Daten, die zum Beispiel am Teilchenbeschleuniger LHC gewonnen werden – können die Forscher dann auf die Existenz der WIMPs und auf ihre Eigenschaften rückschließen und so eine der wichtigsten Fragen beantworten, die sich ihnen bei der Untersuchung des Universums stellt.

Darüber hinaus ist auch der Verbleib der kosmischen Antimaterie eine drängende Frage. Denn bislang ist völlig ungeklärt, warum im Universum offenbar nur Materie, aber keine Antimaterie existiert, obwohl der Urknalltheorie zufolge beide Materiearten in gleichem Verhältnis hätten entstehen müssen. Kam es also – und aus welchen Gründen – zu einem Ungleichgewicht? Oder befindet sich Antimaterie im Universum, ist aber von der übrigen Materie isoliert? Dank AMS werden wir unser Wissen über das Vorhandensein von Antimaterie nun bis an den Rand des beobachtbaren Universums erweitern können.

Weil Anfang 2010 die Betriebsdauer der ISS über das Jahr 2020 hinaus verlängert wurde, kann der Detektor wohl als Dauergast im Orbit bleiben und dank seiner langen Messdauer entsprechend präzise Ergebnisse erzielen. Doch jetzt steht den mehr als 500 beteiligten Forschern und Ingenieuren aus 16 verschiedenen Ländern, die unter Leitung des US-amerikanischen Nobelpreisträgers Samuel Ting an dem Projekt arbeiten, erst einmal die spannendste Phase ihrer Arbeit bevor. Ist die Mission des Shuttles erfolgreich, wird die Internationale Raumstation endlich ihr Versprechen erfüllen, eine Forschungsplattform auch für die astrophysikalische Grundlagenforschung im Weltall zu sein.