Große Menschenansammlungen geraten weniger leicht außer Kontrolle als Viele glauben. Ein möglicher Grund: Gemeinsam erlebte Gefahr "schweißt zusammen".
Aus: Gehirn&Geist, Gehirn&Geist November 2010
Medienberichte über Katastrophen wie die bei der Loveparade in Duisburg in diesem Sommer nähren ein verbreitetes Vorurteil: Demnach breche in Menschenmengen bei Gefahr besonders leicht Panik aus und der Einzelne handele in solchen Situationen besonders egoistisch. Dem widerspricht der Physiker Tobias Kretz in der neuen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Gehirn&Geist (Heft 11/2010).
Kretz, der mithilfe einer speziellen Computersoftware die Personenströme im Verkehr und bei Großveranstaltungen simuliert, kommt nach Sichtung der neueren Forschung zu dem Schluss: Selbst bei Katastrophen dominieren häufig eher Hilfsbereitschaft und Besonnenheit.
So ergaben Befragungen von Katastrophenopfern sowie Testszenarien im Labor, dass Gruppenmitglieder weit weniger als erwartet zu irrationalem und egoistischem Verhalten neigen. Gerade in Anbetracht einer gemeinsammen Bedrohung bleiben die Betroffenen oft ruhig. Die Sozialpsychologen Chris Cocking von der London Metropolitan University und John Drury von der University of Sussex in Brighton untermauerten dies in einer Studie von 2009: Die Forscher werteten rund 150 Berichte von Überlebenden der Anschläge auf die Londoner U-Bahn im Jahr 2005 aus. Bei den Selbstmordattentaten waren damals 56 Menschen gestorben und mehr als 700 verletzt worden.
Die systematische Sichtung von Augenzeugenprotokollen und Interviews ergab: Nur eine Minderheit der Befragten schilderte panische Reaktionen unter den U-Bahn-Insassen, auch von einem egoistischen "Rette sich, wer kann!" konnte kaum die Rede sein. Die meisten Betroffenen waren gefasst geblieben und kümmerten sich etwa um Verletzte, bis die Rettungsteams eintrafen.
Auch von den unmittelbaren Reaktionen auf die Anschläge auf das New Yorker World Trade Center im September 2001 berichten Sicherheitsexperten ähnliches – so etwa Rita Fahy von der National Fire Protection Association in den USA und Guylène Proulx vom kanadischen National Research Council im Jahr 2004: Bei aller Furcht hätten die unmittelbar Betroffenen in und um den Türmen weitgehend die Fassung bewahrt. "Wie die Auswertung von 745 Augenzeugenberichten ergab, verlief die Evakuierung im Wesentlichen ruhig und geordnet", resümieren die Forscherinnen.
Ein wichtiger Faktor scheint die "Soziale Identität" der Gruppe zu sein: Das Wir-Gefühl von Menschen kann bereits angesichts einer gemeinsamen Bedrohung wachsen – und das fördert die gegenseitige Hilfeleistung.
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