Donnerstag, 14. Oktober 2010

Vom Untergang bedroht

Am Oberlauf des Tigris im Südosten der Türkei soll ein gewaltiger Stausee entstehen. Trotz weltweiter Proteste besteht die türkische Regierung auf der Durchführung des umstrittenen Projekts – unschätzbares Kulturerbe ginge dabei unwiderruflich verloren.

Aus: epoc, epoc 6/2010

Das Kabinett in Ankara hat entschieden. Und bleibt dabei: In der vorwiegend von Kurden bevölkerten Provinz Batman nahe der Grenze zu Syrien soll ein 136 Meter hoher Damm entstehen, der den Tigris zu einem riesigen See stauen wird. Städte, Dörfer, Weiler und Weiden würden untergehen, sollte das Projekt tatsächlich realisiert werden – und mit ihnen archäologische Schätze aus mehr als zehn Jahrtausenden. Ganz abgesehen davon, dass bis zu 70.000 Menschen zwangsumgesiedelt werden müssten. Umweltschützer warnen, die Tigrisauen und ihre einzigartigen Biotope seien durch das Großprojekt massiv bedroht, berichtet das Geschichtsmagazin epoc (Ausgabe 6/2010).

Die UNESCO stemmt sich als Hüterin des Weltkulturerbes gegen das gigantische Bauvorhaben. Selbst die in ökologischen Belangen nicht als Vorreiter bekannte Weltbank hat wegen der massiven Proteste ihre Unterstützung aufgekündigt. Die türkische Regierung ficht dies aber offenbar nicht an. Rund 200 Siedlungen sollen in den Fluten versinken, die bekannteste unter ihnen ist heute Hasankeyf. Das Städtchen wurde zum Symbol einer bewahrenswerten Vergangenheit und zum Zentrum des Widerstands gegen den Staudamm. Bislang waren die Proteste teilweise durchaus erfolgreich. So sollten ursprünglich drei Exportkreditversicherer aus Deutschland (Euler-Hermes), Österreich (Kontrollbank) und der Schweiz (Exportrisikoversicherung) Bauleistungen von rund 450 Millionen Euro absichern. Im Sommer letzten Jahres zogen die Europäer ihre Kreditbürgschaften jedoch zurück, weil sich die Türkei weigerte, deren Umwelt- und Sozialauflagen zu erfüllen. Nun sollen mit Akbank und Garantibank zwei türkische Geldhäuser die Finanzierung übernehmen.

Hasankeyf ist ein malerischer Ort, es erfüllt neun von zehn Kriterien der UNESCO, um als Weltkulturerbe anerkannt zu werden. Anders als alle anderen türkischen Städte hat es sich sein mittelalterliches Aussehen weit gehend bewahrt. Die historischen Monumente des Orts werden kaum von modernen Bauten bedrängt.

Die Besiedlungsgeschichte der Region reicht aber noch um Jahrtausende weiter zurück. Die Provinz Batman liegt in Obermesopotamien, jener Region an Euphrat und Tigris, in der vor rund zwölf Jahrtausenden die Wiege der menschlichen Kultur stand. Im Sommer 2009 stießen Archäologen in der näheren Umgebung Hasankeyfs auf bis zu 15.000 Jahre alte Spuren menschlicher Siedlungen.

Bisher wurden lediglich fünf oder sechs Prozent der archäologisch interessanten vorgeschichtlichen und antiken Stätten erforscht, schätzt Adolf Hoffmann, der ehemalige Direktor der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts. Doch die meisten verantwortlichen Politiker scheinen den Wert der Kulturdenkmäler zu verkennen. So äußerte sich der türkische Umweltminister Veysel Eroglu abfällig: "Wo geflutet wird, gibt es sowieso nur primitives Zeug."

Andere wie etwa Premierminister Recep Tayyip Erdogan zeigen mehr Verständnis. Er unterstützte den Vorschlag, dass die Schätze Hasankeyfs wie die ägyptischen Felsentempel von Abu Simbel in den 1960er Jahren abgetragen und an einer neuen Stelle außerhalb des Stausees wieder aufgebaut werden sollten. Doch in Hasankeyf stehen hauptsächlich Häuser, die aus kleinen Steinen gebaut und teilweise mit Fayencen verkleidet wurden. Diese kleinteiligen Gebäude zu verlegen, scheint unmöglicht.

Im Mai 2010 wurde daher eine neue Idee lanciert: Die Monumente sollten doch einfach nachgebaut werden! Abgesehen davon, dass ein solches Disneyland der Vergangenheit nicht nur aus Sicht der Archäologen keinerlei Sinn und Wert hätte, scheint es sich dabei nur um eine fixe Idee zu handeln. Dafür sprechen zumindest die schicksalsergebene Worte von Kulturminister Ertugrul Günay: "Ich möchte nicht, dass Hasankeyf verschwindet; aber das Leben ist unerbittlich.

Über epoc:
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