Viele menschliche Genvarianten sind erheblich älter als vermutet
Aus: Spektrum der Wissenschaft, März 2011
Je tiefer die Genforscher in die Geheimnisse unseres Erbguts vordringen, desto mehr Überraschendes finden sie. In der März-Ausgabe von "Spektrum der Wissenschaft"erzählt der amerikanische Humangenetiker Jonathan K. Pritchard von der Universität Chicago von der Herkunft der genetischen Vielfalt heutiger Menschen. Wie eine Reihe Kollegen sucht Pritchard nach Spuren der Verbreitungsgeschichte des Homo sapiens im Genom. Mutationen, zum Beispiel Genvarianten, können davon zeugen.
Die Experten vermuteten bisher, viele klare erbliche Unterschiede zwischen manchen heutigen Menschengruppen wären im Evolutionsmaßstab erst kürzlich aufgetreten, also vor höchstens ein paar tausend Jahren – weil sie nämlich Anpassungen an neu eroberte Umwelten darstellen würden. Dem ist aber nicht so. Die akribische Durchforstung vieler Genome ergab nur ganz wenige Beispiele dafür, dass sich Gene – und vor allem die Genpools von Bevölkerungsgruppen – in letzter Zeit so deutlich veränderten. Zu den wenigen eklatanten Fällen zählt eine Blutanpassung bei Tibetern, die das Leben in 4000 Meter Höhe erleichtert. Hervorgehoben wird in dem Zusammenhang auch gern die Adaption an Milchverdauung im Erwachsenenalter bei verschiedenen Populationen von Tierzüchtern.
Meistens aber trügt der Schein. Zum Beispiel kam eine wichtige Mutation für hellere Haut in Europa nicht erst auf, als Menschen immer weiter nach Norden zogen und dort zur Vitamin-D-Bildung trotzdem genügend UV-Strahlung aufnehmen mussten. Vielmehr entstand diese Genvariante bereits irgendwo im Süden gleich an der Urwurzel der Europäer, und zwar bald nach dem Verlassen Afrikas und kurz nachdem sich die späteren Ostasiaten abgespalten hatten.
Überhaupt scheinen die meisten unserer heutigen genetischen Anpassungen noch von Zeiten herzurühren, die mindestens einige zehntausend Jahre zurückliegen. Pritchard beschreibt bei Nichtafrikanern drei übergreifende Muster im Genom – oder Verästelungen von Entwicklungslinien –, welche die Ausbreitung des Homo sapiens recht gut widerspiegeln. Viel veränderte sich nach dem Verlassen Afrikas vor mindestens 60000 Jahren – dieses Erbe prägt sich bis heute stark durch. Des Weiteren zeichnet sich eine gemeinsame Wurzel der Europäer und Westasiaten klar ab. Das dritte Muster markiert die Ostasiaten, Australier und amerikanischen Urbevölkerungen.
Aber wie erklärt sich die heutige Vielfalt? Pritchard und seine Kollegen vermuten, dass die Evolution bei Anpassungsprozessen jeweils mit einer großen Anzahl Gene spielt, genauer gesagt: dass sich meistens hunderte oder sogar tausende Gene an einem Merkmal beteiligen. Der Beitrag des einzelnen Gens kann dann verschwindend gering sein. Schon jetzt kennen Forscher über 50 Erbfaktoren für die Körpergröße, und sie erwarten noch wesentlich mehr.