Aus: Spektrum der Wissenschaft, Juli 2011
Im Zellkern geht es drunter und drüber: Chromosomen wie auch einzelne Gene wechseln immer wieder ihren Ort im Zellkern – etwa beim Ausreifen embryonaler Stammzellen, aber auch bei Krebs
Vor zehn Jahren enträtselten Molekularbiologen die DNA-Sequenz des menschlichen Genoms. Doch lässt sich allein aus der Abfolge der DNA-Buchstaben aller Chromosomen in den menschlichen Zellen noch nicht erkennen, wie das Genom die Vorgänge in den Zellen steuert und ermöglicht, dass aus einer befruchteten Eizelle ein selbstständiges Individuum entsteht. Ein wichtiger, bislang wenig beachteter Faktor dabei ist, wie sich die Chromosomen im dreidimensionalen Raum des Zellkerns anordnen – und mit ihnen die Gene.
In der Juliausgabe von "Spektrum der Wissenschaft" beschreibt der Molekularbiologe Tom Misteli vom US-amerikanischen National Cancer Institute, wie er sowie einige Kollegen mithilfe neuartiger Verfahren zur räumlichen Bildgebung ein pulsierendes "Ökosystem" im Zellkern entdeckten. Lange glaubten Forscher, die einzelnen Chromosomen lägen dort – abgesehen von der Zellteilungsphase – völlig durcheinander, wie gekochte Spagetti nach dem Umrühren in der Schüssel. Inzwischen ist jedoch klar, dass jedes Chromosom auch im losen Zustand einen klar definierten Ort im Zellkern einnimmt. Dabei haben bestimmte Chromosomen jeweils bevorzugte Plätze, etwa im Zentrum des Kerns oder aber an der Peripherie. Doch ist diese Verteilung nicht in Stein gemeißelt. In verschiedenen Zelltypen ist das gleiche Chromosom manchmal ganz unterschiedlich angeordnet, und dieses Arrangement kann sich auch verändern – sowohl während der Entwicklung des Organismus als auch bei Erkrankungen.
Es zeigte sich: Je weiter zur Peripherie des Zellkerns zu Chromosomen oder Teile davon liegen, desto weniger aktiv sind die dort befindlichen Erbfaktoren. Das Milieu in diesem Bereich scheint Gene stummzuschalten. Inaktive DNA liegt meist als stark komprimiertes Heterochromatin vor und ist mittels so genannter Laminproteine an der Zellkernwand verankert. Dies gilt aber nur für ausgereifte Zellen: Embryonale Stammzellen, die sich noch auf keine Funktion spezialisiert haben, weisen keine Lamine auf, und praktisch alle Gene sind in ihnen aktiv. Erst mit der Ausdifferenzierung in einen bestimmten Zelltyp wird ein Teil des Erbguts stillgelegt. Treten hier auf Grund von defekten Laminproteinen Fehler auf, können unterschiedlichste Krankheiten die Folge sein. Vermutlich ist dann das Genom räumlich falsch organisiert; wichtige Gene geraten in unpassende Positionen und können ihre Aufgabe nicht erfüllen.
Bei einigen Krebserkrankungen spielt die Chromosomenposition im Zellkern eine wichtige Rolle, und zwar bei solchen, bei denen DNA-Abschnitte abbrechen und sich mit einer anderen Stelle des Erbguts verbinden. Hier entscheidet die räumliche Nähe verschiedener Chromosomen, wo sich ein abgebrochenes Stück wieder anheftet. Diese Erkenntnis ließe sich etwa für eine sehr frühe Diagnose von Krebs nutzen.
Der genaue Mechanismus, wie die Gene im Zellkern hin- und herwandern, ist noch unklar. Es könnte ein sich selbst organisierender Vorgang zu Grunde liegen, der keine molekularen Maschinen oder ähnliches benötigt. Laut dem Autor Tom Misteli könnte bei der Aktivierung eines Gens die dazu gehörige DNA-Schleife von der Peripherie des Zellkerns in Richtung Zentrum herausklappen und dort dann abgelesen werden.