Mittwoch, 24. Oktober 2012

Übergewichtig durch zu viel Antibiotika?

Heidelberg. Bei Bakterien denkt man meist nur an Krankheitserreger. Zu Unrecht: Billionen von Mikroben haben sich in unserem Körper häuslich eingerichtet, ohne Schaden anzurichten. Viele von ihnen sind sogar ausgesprochen nützlich – ja unersetzlich. Wie „Spektrum der Wissenschaft“ im Titelthema seiner Novemberausgabe beschreibt, decken Forscher mehr und mehr wichtige Funktionen unserer winzigen Untermieter auf, vor allem solcher in unserem Verdauungstrakt. Sie produzieren Vitamine, helfen beim Aufschließen ansonsten unverwertbarer Nahrungsbestandteile und regulieren den Appetit sowie die Stärke von Immunreaktionen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft, November 2012

Damit erscheinen jedoch weit verbreitete Gepflogenheiten der modernen Medizin in einem ganz anderen, bedrohlichen Licht. So könnte die gängige Gabe von Antibiotika bereits im Kleinkindalter Bakterien im Magen ausrotten, die kontrollieren, wann wir Hunger bekommen. Die in westlichen Ländern grassierende Fettleibigkeit wäre dann möglicherweise darauf zurückzuführen. Und der Trend zu Kaiserschnittgeburten gerät als Ursache für die zunehmenden Autoimmunerkrankungen in Verdacht, da bestimmte, für die Immunregulation wichtige Bakterien das Baby nur bei einer natürlichen Geburt zuverlässig besiedeln.

Zum Hintergrund: Die Autorin des "Spektrum"-Artikels fasst die Ergebnisse verschiedener Studien der letzten Jahre zum so genannten Mikrobiom des Menschen zusammen; das ist die Gesamtheit aller in und auf unserem Körper lebenden Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze. Insgesamt trägt jeder Mensch etwa zehn Mal so viele fremde Zellen mit sich herum, wie sein Körper selbst hat; den gut 20000 Genen des Menschen stehen über drei Millionen Gene der Gastorganismen gegenüber. Fortschritte in der Computertechnik und der Gensequenzierung erlauben es inzwischen Forschern, einen detaillierten Katalog aller bakteriellen Gene im menschlichen Mikrobiom zu erstellen. Damit beginnen die Wissenschaftler auch den Funktionen der Einzeller auf die Schliche zu kommen.

Schon länger bekannt ist beispielsweise, dass nur Bakterien Vitamin B12 herstellen können. Einige Mikroben sind auf den Abbau komplexer Kohlenhydrate spezialisiert, was unserem Körper erst ermöglicht, etwa Haferkleie zu verwerten.

Ein besonders interessanter Fall ist die Bakterie Helicobacter pylori, die in Verruf geriet, als bekannt wurde, dass sie Magengeschwüre auslösen kann. Entsprechend etablierte sich der Einsatz von Antibiotika als Therapie. Jetzt stellte sich jedoch heraus, dass die Bakterie dem Menschen hilft, den Säuregrad im Magen zu regulieren. Nicht nur das, sie senkt anscheinend auch den Spiegel des "Hungerhormons" Ghrelin nach dem Essen. Wurde die Mikrobe mittels Antibiotika ausgemerzt, bleibt der Ghrelinspiegel nach dem Essen länger hoch, weshalb die Betroffenen länger hungrig sind, mehr essen und an Gewicht zunehmen. Da der Prozentsatz an Menschen mit Helicobacter pylori nicht zuletzt wegen des ausufernden Antibiotikaeinsatzes im Kindesalter stark zurückgegangen ist, besteht die Gefahr geradezu einer Epidemie von Fettleibigkeit – wie sie sich in manchen westlichen Ländern ja auch schon andeutet.

Eine andere Bakterie scheint über ein spezielles Oberflächenmolekül die Immunabwehr im Darm zu regulieren. Ohne sie beginnen Immunzellen verstärkt alles anzugreifen, was in ihrer Nähe ist – auch das körpereigene Gewebe. Das Fehlen dieser Mikrobe könnte also unter Umständen die in letzter Zeit zu beobachtende starke Zunahme an Autoimmunerkrankungen wie Diabetes mellitus, Morbus Crohn oder multiple Sklerose erklären.