Mittwoch, 24. Oktober 2012

Was ist Zeit?

"Wie spät ist es?" Ein flüchtiger Blick auf die Uhr genügt, und die Antwort scheint klar. Für uns ist es selbstverständlich geworden, die Zeit im Alltag genau zu kennen. Und mit Hilfe moderner Atomuhren gelingt es sogar, sie auf milliardstel Bruchteile genau zu messen. Aber gibt es für dieses Zerlegen eine natürliche Grenze – und kennen wir damit das Wesen der Zeit wirklich?

Aus: Sterne und Weltraum, November 2012

"Zeit ist weit mehr als ein praktisches Werkzeug, und es ist eine äußerst spannende Herausforderung, ihr Wesen zu hinterfragen", so der am Exzellenzcluster Universe der Technischen Universität München tätige Astrophysiker Andreas Müller. In der November-Ausgabe der Zeitschrift Sterne und Weltraum beschreibt er die Zeit als ein vielfältiges Phänomen, das – sollten die modernen, noch spekulativen Ansätze korrekt sein – sogar verschwinden kann.

"Unser Verständnis dieses Begriffs müssen wir davon abhängig machen, auf welcher räumlichen Skala wir uns bewegen", erklärt der Forscher. In seinem Beitrag veranschaulicht er, wie wir in unserer gewohnten Alltagswelt die Vorstellung einer gleichmäßig dahinfließenden absoluten Zeit kultivieren und welche Zeitbegriffe die Naturwissenschaften heute anwenden: Im Mikrokosmos, der Welt der kleinsten Teilchen, müssen wir die Möglichkeit von Zeitquanten in Betracht ziehen. Blicken wir dagegen in die Weiten unseres Universums, dann konfrontiert uns die Erforschung von fernen Galaxien mit Einsteins kontinuierlicher Raumzeit.

"Je nachdem, ob wir unsere Umgebung im Kleinen oder im Großen erforschen, müssen wir unserer Betrachtung der Welt ein anderes Konzept der Zeit zugrunde legen", resümiert Müller. "Vielleicht sollten wir uns daher nicht wundern, dass die gute alte, zuverlässig voranschreitende Zeit, wie wir sie erleben und schätzen, nur dort ihre Berechtigung hat, wo sie erstmals charakterisiert wurde: auf der Erde."

Zum Hintergrund: Wir starten in den Tag und planen unser Programm mit einem wesentlichen Werkzeug: der Uhr. Sie zeigt uns ganz selbstverständlich die Zeit an. Die uns im Alltag geläufigen Zeitbegriffe sind mit wiederkehrenden kosmischen Vorgängen verknüpft: Die Drehung unserer Erde definiert den Tag, der Mondzyklus den Monat und die Umlaufbewegung der Erde um die Sonne das Jahr. Von Menschenhand erschaffene Messinstrumente erlauben es uns, diese Zeiträume in beliebig kleine Einheiten zu zerlegen – in Stunden, Minuten und Sekunden. Und mit Atomuhren können wir die Zeit sogar auf Milliardstel genau messen. Aber verstehen wir damit auch ihr Wesen? Sicherlich nicht, denn es gibt eine Merkwürdigkeit: Die Zeit kennt nur eine Richtung, und sie verstreicht einfach – ob wir es wollen oder nicht.

Die Forscher des 19. Jahrhunderts lernten, das Vorwärtsschreiten der Zeit mit Hilfe der Thermodynamik zu verstehen und entdeckten dabei ihre enge Verwandtschaft mit der "Entropie". Diese auch als "Schwester der Zeit" bezeichnete Größe beschreibt die Unordnung von Systemen im Universum.

Ein fundamentales Gesetz besagt, dass die Entropie in einem abgeschlossenen System nur gleich bleiben oder zunehmen kann. So wird eine Porzellantasse, die von einem Tisch zu Boden fällt, in viele Scherben zerspringen. Umgekehrt werden wir jedoch niemals beobachten, dass sich ein Haufen Scherben zu einer Tasse vereinigt. Die Abfolge der beiden Zustände "Tasse auf dem Tisch" und "Scherbenhaufen" ist also unumkehrbar.

Dass die Zeit nur eine Richtung kennt, lässt sich jedoch nicht nur mikrophysikalisch mit den Gesetzen der Thermodynamik begründen, sondern auch makrophysikalisch an der Entwicklung des sich beständig ausdehnenden Universums ablesen. Da diese kosmische Expansion direkt der zeitlichen Entwicklung folgt, lässt sie sich als Indikator für eine "kosmische Zeit" betrachten.

Hier deutet sich bereits an, dass es mehr als nur einen Zeitbegriff gibt. Galilei und Newton betrachteten die Zeit als absolut, sie sollte überall im Universum gleichermaßen ablaufen. Einstein erkannte jedoch, dass die Zeit relativ ist und dass sie untrennbar mit dem Raum verknüpft ist. Und die Quantenphysik eröffnete den Physikern eine neue Sicht auf den Zeitbegriff, dessen Erforschung bis heute nicht abgeschlossen ist.