Mittwoch, 13. Februar 2013

Autimus – die neue Modediagnose?


Aus: Gehirn und Geist, März 2013


Heidelberg. Er gilt als tiefgreifende Entwicklungsstörung des Gehirns und macht sich schon im Kleinkindalter in soziale Zurückgezogenheit und eingeschränkten Interessen bemerkbar: Autismus. Seine Ursachen liegen zwar nach wie vor im Dunkeln, jedoch verzeichnen Mediziner und Psychologen in den letzten Jahren einen rasanten Anstieg der Diagnosen. Immer mehr Kinder, aber auch Erwachsene mit Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang würden als "krank" angesehen, beklagt die Leiterin der Marburger Autismus-Sprechstunde Inge Kamp-Becker gegenüber dem Psychologiemagazins „Gehirn und Geist“ (Ausgabe 3/2013).

Der Trend zur Modediagnose sei gefährlich, weil falsche Behandlungen und Stigmatisierung drohten. "Man sollte genau hinschauen, was hinter mangelnder Kommunikation oder stereotypem Verhalten steckt", sagt die Psychologin Kamp-Becker, weil eine "Schonhaltung" infolge des Krankenstatus die Probleme der Betreffenden noch verschärfen könne. Außerdem laste das Etikett "angeborene Hirnentwicklungsstörung" teils schwer auf ihnen und ihren Angehörigen.

Der Autismusexperte Fritz Poustka von der Universität Frankfurt räumt in "Gehirn und Geist" ebenfalls ein, dass die Zahl der Patienten steige. Doch einen Grund dafür sieht er in früheren Diagnose ab dem ersten Lebensjahr, die auch ihr Gutes hätten: Sie ermöglichen es etwa, frühzeitig therapeutisch gegenzusteuern. Eine Behandlung der Wahl bei Autismus gibt es bislang freilich nicht. Die Betreffenden können aber lernen sich besser im Alltag einzurichten und ihr Kommunikationsverhalten zu verbessern.

Eine Besonderheit des Autismus ist die enorme Bandbreite der Erscheinungsformen – von sprachunfähigen, pflegebedürftigen Patienten bis hin zu kauzigen Eigenbrötlern mit teils hoher Intelligenz. Der Neurowissenschaftler Laurent Mottron erforscht, was der Störung zugrunde liegt. Zu seinem Team an der Université de Montreal gehört auch Michelle Dawson, die selbst an einer milderen Form von Autismus leidet. Mottron ruft dazu auf, auch die möglichen Stärken von Autisten in den Blick zu nehmen und sie nicht unnötig zu pathologisieren. In der richtigen Umgebung könnten viele von ihnen der Gesellschaft wertvolle Dienste leisten.