Dienstag, 26. Februar 2013

Traditionelle Chinesischen Medizin: Ein unbeabsichtigter Exportschlager


Aus: Spektrum der Wissenschaft, März 2013


Heidelberg. Eigentlich wollten die chinesischen Machthaber im 20. Jahrhundert ihre eigene historische chinesische Medizin zugunsten einer modernen westlichen Heilkunst loswerden. Denn sie betrachteten diese als Hindernis für die Weiterentwicklung des "Reichs der Mitte" zu einem modernen, zum Westen konkurrenzfähigen Staat. Doch dann verschaffte der Westen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) eine unverhoffte Verbreitung. Wie konnte das passieren?

In der März-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft zeichnet der Medizinhistoriker und Sinologe Paul U. Unschuld den verblüffenden und kurvenreichen Weg der TCM nach. Die historische Chinesische Medizin wurde von der Politik im eigenen Land schon lange als unwissenschaftlich und fortschrittsfeindlich angesehen, sogar als Gefahr für die Modernisierung Chinas.

1915 verfasste Chen Duxiu einen "Appell an die Jugend" seines Landes. Darin beschuldigte der spätere Mitbegründer und erste Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas nicht zuletzt die Ärzte der Chinesischen Medizin der beklagenswertesten Unwissenheit.

Chinas Reformer und Revolutionäre sahen nur einen Ausweg. China müsse, wie Japan bereits erfolgreich demonstriert hatte, die westlichen Wissenschaften und Technologien sowie deren kulturellen Grundlagen studieren und übernehmen. Ein Versuch seitens der Politik, ein entsprechendes Verbot durchzusetzen, lief jedoch ins Leere. Die chinesische Regierung unterstützte daraufhin Bemühungen, sinnvolle und nützliche Elemente auszuwählen und in die moderne, auf biologische Naturwissenschaften gegründete Medizin zu integrieren. Mitte der 1960er Jahre entstand das ideologisch motivierte Konstrukt der Traditionellen Chinesischen Medizin. Der Besuch des US-Präsidenten Nixon in China im Jahre 1972 und die folgende Öffnung Chinas unter der Ägide Deng Xiaopings machte die Lage komplizierter, als es die politischen Strategen erwartet hatten.

Denn im Westen setzten die Berichte über geradezu mysteriöse Heilerfolge der Akupunktur einen Strom von Ärzten, Heilpraktikern, Laien und Politikern nach China in Gang. Bald erschienen in den USA und Europa Bücher über die alternative Heilkunde aus dem Fernen Osten, die zu Bestsellern wurden. Für viele Leser stellte diese Lehre das lange ersehnte Gegenprogramm zu der auf Chemie und Technologie gegründeten Medizin des Westens dar. Allerdings wurden die frühen Erfolgsbücher von Autoren verfasst, die weder über ausreichende chinesische Sprachkenntnisse verfügten noch sich in chinesischer Medizingeschichte auskannten oder gar über längere Zeit die medizinische Praxis in China verfolgen konnten.

Liest man heute diese Schriften über "Chinesische Medizin", dann wird klar, dass hier offenbar eine Sehnsucht bedient wurde. Es war die Zeit des Club of Rome, in der existentielle Ängste die Menschen ergriffen: nuklearer Winter, Umweltzerstörung und Klimawandel. Es war eine Furcht, die auch gesellschaftlichen Wandel in Gang setzte, neue politische Parteien auf den Plan rief und, wie so oft in der Geschichte der Medizin, auch den Umgang mit dem eigenen Körper veränderte. So kam es gar nicht so sehr darauf an, was TCM oder Chinesische Medizin wirklich darstellten. Die Defizite der Schulmedizin sowie der Erfolg alternativer Heilmethoden sind somit nur ein Teil der Ursachen dafür, dass sich die TCM so hartnäckig hat behaupten können.

"Eine Betrachtung über Sinn und Unsinn von TCM ist kulturell und sozialpsychologisch vielschichtig", resümiert der Münchner Professor Paul U. Unschuld. "Sie berührt nicht nur fachliche, sondern auch weltanschauliche, politische und kommerzielle Aspekte".