Unser Selbstbild erscheint stabil – doch Forschern zufolge passt es sich flexibel an Umweltreize an.
Aus: Gehirn&Geist, Juli-August 2010
Laut Psychologen wie Timothy Wilson von der University of Virginia in Charlottesville (USA) ist unsere Fähigkeit zur geistigen Innenschau – auch Introspektion genannt – beschränkt. Denn die meisten Prozesse, die unser Selbstbild formen, bleiben unter der Oberfläche des Bewusstseins verborgen und sind zudem leicht manipulierbar. Das berichtet das Magazin Gehirn&Geist in seiner neuen Ausgabe (7-8/2010).
Wie groß die Macht der "impliziten", also unbewussten Vorgänge ist, belegen so genannte Priming-Experimente. So können Reize, die unterhalb der Schwelle zur bewussten Wahrnehmung liegen ("Primes", von englisch to prime = vorbereiten), die ichbezogenenen Urteile von Probanden verändern. Nur wenige Millisekunden lang präsentierte Bilder oder Wörter haben mitunter verblüffende Wirkung.
Der Kölner Sozialpsychologe Thomas Mussweiler fragte Probanden, wie sportlich oder extrovertiert Sie sind. Zur Beantwortung dieser Frage braucht man einen Maßstab – und dieser kann leicht "geprimt" werden: Das blitzschnelle Einblenden der Namen von Spitzensportlern wie "Boris Becker" setzte die Selbsteinschätzung der Probanden in Sachen Sportlichkeit herab. Wie wir uns sehen, hängt offenbar stark davon ab, mit wem wir uns spontan vergleichen.
Die Einstellungen und Urteile, die wir über uns selbst bilden, sind zudem häufig verzerrt. Wie Persönlichkeitstests zeigen, überschätzen sich die meisten Menschen allgemein eher. Der Neuropsychologe Julian Paul Keenan von der Montclair University bei New York konnte in einem Experiment von 2008 diese Neigung mittels Hirnstimulationen manipulieren: Bei magnetischer Reizung eines Abschnitts des Frontalhirns nahm die Anzahl der positiven Adjektive ("spendabel", "talentiert" ...), die Probanden für sich in Anspruch nahmen, deutlich ab.
Wie ein Team um den Psychologen Onur Güntürkün an der Ruhr-Universität Bochum 2010 feststellte, können sich negative Klischees bezüglich der eigenen Person umgekehrt leistungsmindernd auswirken. Die Forscher widmeten sich einer "geschlechtssensiblen" Aufgabe – dem Einparken. Von festgelegten Startpositionen aus ließen sie 17 Fahranfänger sowie 48 fortgeschrittene Autofahrer auf einem Testgelände verschiedene Einparkmanöver vollführen. Trotz vergleichbarer Fahrpraxis manövrierten Frauen das Auto im Schnitt weniger genau auf die vorgegebenen Markierungen. Dies hing eng mit der die jeweilige Selbsteinschätzung zusammen: Fahranfänger, die an ihr Talent glaubten, parkten exakter als jene, die sich weniger zutrauten. Letzteres traf auf die weiblichen Teilnehmer häufiger zu.
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